Amputierter fühlt in Echtzeit mit künstlicher Hand

Der Däne Dennis Aabo Sørensen ist nach Angaben von Wissenschaftlern der erste Mensch der Welt, der mit Hilfe einer Ersatzhand ohne Zeitverzögerung wieder etwas spüren kann. (Foto: LifeHand 2)

Dennis Aabo Sørensen ist der erste Amputierte der Welt, der mit einer an die Nerven seines Oberarms angeschlossenen Handprothese sensorische Informationen in Echtzeit fühlt. Das teilte die „École polytechnique fédérale“ in Lausanne in einer Pressemitteilung mit. Sørensen konnte intuitiv nach Gegenständen greifen und mit verbundenen Augen erkennen, was er berührte. Neun Jahre nach seinem Unfall wurde Dennis Aabo Sørensen zum ersten Amputierten der Welt, der mit einer chirurgisch an die Nerven seines Oberarms angeschlossenen, sensorischen Handprothese wieder etwas fühlte – und in Echtzeit.

Silvestro Micera und sein Team an der EPFL (Schweiz) und der SSSA (Italien) entwickelten dieses revolutionäre System einer sensorischen Rückmeldung, dank dem Sørensen beim Berühren und Bewegen von Gegenständen wieder etwas spürt. Im Februar 2013 wurde im Rahmen einer klinischen Studie in Rom unter der Aufsicht von Paolo Maria Rossini im Gemelli-Spital (Italien) ein Prototyp dieser Bioniktechnologie getestet. Die Studie wird in der am 5. Februar 2014 erscheinenden Ausgabe von Science Translational Medicine veröffentlicht und stellt eine Zusammenarbeit mit dem Titel «Lifehand 2» zwischen mehreren europäischen Universitäten und Spitälern dar.
«Die sensorische Rückmeldung war unglaublich», berichtet der 36-jährige dänische Amputierte. «Ich konnte Dinge spüren, die ich in über neun Jahren nicht mehr gespürt hatte.» Mit verbundenen Augen und Ohrstöpseln konnte Sørensen sagen, wie stark er mit seiner Prothese zupackte und welche Form und Konsistenz verschiedene Gegenstände hatten. «Wenn ich einen Gegenstand festhielt, konnte ich
spüren, ob er weich oder hart, rund oder eckig war.»

Vom elektrischen Signal zum Nervenimpuls
Micera und sein Team verbesserten die künstliche Hand durch den Einbau von Sensoren, die  haptische Informationen erkennen. Dies erfolgte durch Messen der Spannung in künstlichen Sehnen, die Fingerbewegungen steuern, und die Umwandlung dieser Messergebnisse in elektrischen Strom.
Dieses elektrische Signal ist jedoch zu grob, um vom Nervensystem verstanden zu werden. Mithilfe von Computeralgorithmen wandelten die Wissenschaftler das elektrische Signal in einen Impuls um, den die Sinnesnerven interpretieren können. Der Tastsinn wurde dadurch erreicht, dass das digital verfeinerte Signal über Drähte in vier chirurgisch in Sørensens noch verbliebenen Oberarmnerven implantierte Elektroden geleitet wurde. «Es ist zum ersten Mal gelungen, auf dem Gebiet der Neuroprothetik eine sensorische Rückmeldung wiederherzustellen und für einen Amputierten in Echtzeit zur Steuerung einer künstlichen Gliedmasse verfügbar zu machen», erklärt Micera. «Wir befürchteten eine reduzierte Empfindlichkeit von Dennis‘ Nerven, weil diese über neun Jahre lang nicht benutzt worden waren», sagt Stanisa Raspopovic, Hauptautor und Wissenschaftler an der  EPFL und der SSSA. Diese Sorgen verflogen jedoch, als die Forscher Sørensens Tastsinn erfolgreich
reaktivierten.

Elektroden mit Nerven verbinden
Am 26. Januar 2013 wurde Sørensen im Römer Gemelli-Spital operiert. Unter der Leitung von Paolo Maria Rossini pflanzte eine spezialisierte Gruppe von Chirurgen und Neurologen die transneuralen
Elektroden in den Ulnaris- und Mediannerv von Sørensens linkem Arm ein. Nach 19 Tagen vorbereitender Tests schlossen Micera und sein Team ihre Prothese eine Woche lang jeden Tag an
die Elektroden – und damit an Sørensen – an. Dank ultradünner, äusserst präziser, von einer Forschergruppe unter der Leitung von Thomas Stieglitz an der Universität Freiburg in Deutschland entwickelter Elektroden konnten extrem schwache elektrische Signale direkt ins Nervensystem geleitet werden. Um sicherzustellen, dass die Elektroden auch nach der Bildung von Narbengewebe im Anschluss an den chirurgischen Eingriff
noch funktionsfähig sind, war viel Vorlaufforschung nötig. Es war auch das erste Mal, dass solche Elektroden transversal ins periphere Nervensystem eines Amputierten implantiert wurden.

 

(Grafik: LifeHand 2)
(Grafik: LifeHand 2)

Erste sensorisch verbesserte künstliche Gliedmasse
Die klinische Studie ist ein erster Schritt auf dem Weg zur bionischen Hand, obwohl eine sensorische Prothese erst in vielen Jahren kommerziell verfügbar sein wird. Die bionische Hand aus den Science-Fiction-Filmen wird noch viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Im nächsten Schritt geht es darum, eine Miniaturisierung der Elektronik für die sensorische Rückmeldung einer tragbaren Prothese zu ermöglichen. Ausserdem werden die Wissenschaftler die Sensorentechnologie für eine bessere Tastauflösung und eine bessere Steuerung der Winkelbewegungen der Finger verfeinern. Nach einem Monat wurden die Elektroden aufgrund von Sicherheitsbestimmungen für klinische Studien entfernt, obwohl die Wissenschaftler zuversichtlich sind, dass sie während Jahren implantiert bleiben könnten, ohne das Nervensystem zu schädigen.
Mentale Stärke als Trumpf
Sørensens mentale Stärke war ein Trumpf für die klinische Studie. Er sagte: «Ich war nur allzu gerne bereit, bei der klinischen Studie mitzumachen. Nicht nur für mich selber, sondern auch um anderen Amputierten zu helfen.» Jetzt steht er vor der Herausforderung, den Tastsinn wieder erlebt zu haben, aber nur für einen kurzen Zeitraum. Sørensen verlor seine linke Hand, als er im Familienurlaub mit Feuerwerkskörpern hantierte. Er wurde ins Spital gebracht, wo seine Hand sofort amputiert wurde. Seither trägt er eine kommerzielle Handprothese, die Muskelbewegungen im Stumpf erkennt und es ihm ermöglicht, die Hand zu öffnen und zu schliessen sowie Gegenstände zu greifen.  «Es funktioniert wie eine Motorradbremse», sagt Sørensen über die konventionelle Prothese, die er normalerweise trägt. «Wenn man sie zieht, schliesst sich die Hand. Wenn man loslässt, öffnet sie sich.» Ohne eine Rückmeldung der sensorischen Information an das Nervensystem kann Sørensen aber nicht spüren, was er zu greifen versucht, und muss seine Prothese ständig im Auge behalten, damit er den Gegenstand nicht zerdrückt. Sørensen erzählt, was ihm der Arzt unmittelbar nach der Amputation sagte: «Sie können das auf zwei Arten sehen: Entweder Sie setzen sich in eine Ecke und bemitleiden sich selbst, oder aber Sie stehen auf und sind dankbar für das, was Sie haben. Ich denke, Sie werden sich für die zweite Sichtweise entscheiden.»
«Er hatte Recht», sagt Sørensen.

Weitere Artikel

Letzte Beiträge