Da kommt was auf Sie zu: Krankenkassen auf Sparkurs

Sollten die Krankenkassen ihre Vorstellungen umsetzen, könnte die Versorgung mit Kathetern für die darauf angewiesenen Versicherten künftig deutlich komplizierter werden.
Sollten die Krankenkassen ihre Vorstellungen umsetzen, könnte die Versorgung mit Kathetern für die darauf angewiesenen Versicherten künftig deutlich komplizierter werden.

 

Mit der Durchführung von Ausschreibungen und der Vorgabe von Pauschalvergütungen bei der Versorgung mit Hilfsmitteln wollen die Krankenkassen ihre Kosten reduzieren. Die Versorgungsqualität der auf die entsprechenden Hilfsmittel angewiesenen Versicherten soll darunter nicht leiden. Was sich ausnimmt wie die Quadratur des Kreises, wird auch so funktionieren: gar nicht.

Jeder durchschnittlich lebenserfahrene Kreditkartennutzer weiß, was es bedeutet, wenn ihm ein Schreiben seines Kartenanbieters ins Haus flattert, das mit „Ihre Kreditkarte bietet Ihnen künftig noch mehr Vorteile“ beginnt: Bisher garantierte Leistungen werden gestrichen oder die Jahresgebühr angehoben, gerne auch beides zugleich. Ähnlich könnte es in naher Zukunft zahlreichen von Inkontinenz betroffenen Krankenversicherten ergehen, wenn sie von ihrer Kasse Post erhalten.

Hohe Kosten – billigster Preis

Für viele chronisch Kranke hängt der Erhalt ihrer Lebensqualität von der ständigen Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln ab. So wenden etwa Querschnittgelähmte und andere – von neurologischen Störungen der Blase – Betroffene in der Regel Einwegkatheter zur Entleerung ihrer Blase an. Die Kosten dieses „Intermittierender Selbstkatheterismus“ (ISK) genannten Verfahrens summieren sich pro Patient auf mehrere tausend Euro jährlich. Die Versorgung erfolgt derzeit auf ärztliches Rezept und wird von speziellen Fachunternehmen, Apotheken oder Sanitätshäusern durchgeführt. Bei deren Auswahl hat der Patient freie Hand, und erforderlichenfalls beraten sie ihn in Sachen Auswahl und Anwendung der für ihn am besten geeigneten Produkte.

Seit geraumer Zeit gibt es Bestrebungen der Krankenkassen, diesen Prozess im Sinne einer Kostenreduzierung zu beeinflussen. Die Versorgung mit den sogenannten „ableitenden Inkontinenzprodukten“, also Kathetern, Kondomurinalen etc., soll auf dem Weg von Ausschreibungen an Partner vergeben werden, die nach Vertragsabschluss exklusiv für die Versorgung der jeweiligen Versicherten zuständig sein sollen. Für die Betroffenen bedeutet das, dass sie nicht mehr die freie Wahl zwischen verschiedenen Versorgern und Versorgungswegen haben, sondern sich ausschließlich mit dem von der Kasse vermittelten Lieferanten auseinandersetzen müssen.

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass ein solcher Lieferant deshalb als Ausschreibungsgewinner aus dem Auswahlverfahren der Kasse hervorgeht, weil er zum niedrigsten Preis angeboten hat. Man muss nicht naiv sein, um zu befürchten, dass dieser Preis zulasten der Qualität geht, denn das entspricht den Gesetzen des Marktes. Konkret heißt das für die Versicherten: Die gewohnte Qualität ihrer Versorgung ist akut in Gefahr.

Wunsch und Wirklichkeit

Auf dem Papier sieht die Sache freilich ganz anders aus. Ein Blick in die Ausschreibungsunterlagen einer Krankenkasse gibt Aufschluss. Dort finden sich u. a. folgende Kriterien: vollständige Kostenübernahme für die benötigten Hilfsmittel und freie Produktauswahl. Der Ausschreibungsgewinner verpflichtet sich, 80 Prozent der marktüblichen Artikel ohne Aufzahlung zu liefern. Lieferung bis hinter die Wohnungstür in neutraler Verpackung. Belieferung binnen 24 Stunden. Erreichbarkeit des Lieferanten zu geschäftsüblichen Zeiten durch persönlichen Telefonkontakt ohne Warteschleife. Persönliche Beratung bei der Produktauswahl und -anwendung durch examinierte Fachkräfte in den eigenen vier Wänden. Sogar Freiumschläge für die Zusendung von Verordnungen müssen gestellt werden.

Willkommen im Wolkenkuckucksheim! Es hat nichts mit Defätismus zu tun, darauf hinzuweisen, dass zwischen wünschenswertem Idealzustand und der Realität in der Regel eine beträchtliche Lücke klafft. Wäre dem nicht so, wären Handwerker immer rasch und pünktlich zur Stelle und arbeiteten preiswert und fehlerfrei, Autos würden so viel verbrauchen wie im Prospekt steht, Tipps zum Abnehmen würden funktionieren, Waschmittel entfernten sämtliche Flecken aus der Wäsche und regelmäßiger Verzehr von Fastfood aus amerikanischen Burgerbratereien wäre der Gesundheit zuträglich.

Aber bedauerlicherweise funktioniert das Leben anders und deshalb gehen die – im Kern ja verständlichen und auch nicht illegitimen – Bestrebungen der Krankenkassen in die falsche Richtung und werden unter dem Strich zu höheren Gesamtkosten führen. Bis diese schmerzliche Einsicht dann aber Konsequenzen nach sich zieht, wird das Experiment auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen werden.

Wenig Realitätssinn

Die Versorgung mit ableitenden Inkontinenzprodukten ist eine hochkomplexe und individuelle Angelegenheit. Das reibungslose Zusammenspiel von Produktauswahl, Versorgung und Anwendung der Produkte in allen Lebenslagen, daheim wie auf Reisen, bestimmt in hohem Maß die Lebensqualität der Betroffenen. Es macht ein „normales“ Leben, soweit davon die Rede sein kann, überhaupt erst möglich. Wie weit von der Realität dieses Personenkreises allerdings manche Entscheidungsverantwortliche bei den Kostenträgern entfernt sind, führen Bestrebungen vor Augen, zum Beispiel die Zahl der täglichen Kathetervorgänge zu normieren, wobei gängige Auffassung ist, der Verbrauch von maximal fünf bis sechs Kathetern pro Tag sei „normal“. An dieser Stelle sei allen Nichtbetroffenen empfohlen, einmal für ein paar Tage Buch über ihre Toilettengänge zu führen und dabei bitte nicht zu vergessen: Nach sechs Mal Pinkeln ist bis zum nächsten Tag Schluss. Das klingt so absurd wie es ist, Betroffene indes können unversehens in die Lage geraten, sich mit derlei Unfug auseinandersetzen zu müssen.

Wenig Gutes ahnen lässt auch der Denkvorstoß, die Einweisung in den Gebrauch der Produkte sowie die umfassende Beratung zum Themenkomplex könne man aus dem Pflichtenheft für die Ausschreibungsteilnehmer streichen, schließlich fielen diese Aufgaben in den Zuständigkeitsbereich des behandelnden Arztes. Fakt ist: Fachärzte haben in aller Regel weder Zeit noch Lust, diesen Job zu übernehmen, und sind in dieser sehr speziellen Materie auch nur bedingt kundig. Schon die Idee geht deshalb an der Realität völlig vorbei. Nichtsdestotrotz Trotzdem existieren auf verwandten Gebieten bereits Gerichtsurteile, die diese neue Arbeitsteilung festzuschreiben versuchen.

Lebensqualität konkret in Gefahr

Sollten deshalb die Pläne von Krankenkassen greifen, den bisher reibungslos verlaufenden Versorgungsprozess von Inkontinenzpatienten durch die Vergabe von Ausschreibungen und Bestimmung von Pauschallieferanten neu zu ordnen, wird dies gravierende Folgen für praktisch alle Betroffenen haben. Entgegen allen Beteuerungen der Involvierten wird die Qualität der Versorgung deutlich abnehmen. Dies bestätigen die Erfahrungen in anderen Produktbereichen schon heute. Im Fall der ableitenden Inkontinenzprodukte geht es diesmal aber um einen Bereich, der die Lebensqualität der Betroffenen zentral bestimmt. Perfide am Vorgehen der Krankenkassen ist, dass sie hinter verschlossenen Türen vollendete Tatsachen schaffen wollen. Das Thema Inkontinenz – wiewohl einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung betreffend – wird nach wie vor tabuisiert, die Betroffenen haben kaum eine Lobby.

Zu mutmaßen, die Versicherer seien sich dieser Tatsache bewusst, bezögen sie gar in ihre Überlegungen mit ein, käme freilich einer Unterstellung gleich. Das Erstaunen wird bei vielen Versicherten groß sein, wenn sie einen Brief von ihrer Krankenkasse erhalten, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einer Botschaft beginnen wird, die sich ungefähr so liest: „Wie Sie wissen, ist Ihre Krankenkasse bemüht, Ihnen jederzeit optimale Betreuung zu garantieren. Um dies auch weiterhin gewährleisten zu können, wird Ihre Versorgung mit ableitenden Inkontinenzprodukten künftig exklusiv durch die Firma XY erfolgen. Die Qualität Ihrer Versorgung hat dabei oberste Priorität.“ Ähnlichkeiten mit dem Marketinggebaren von Kreditkartenanbietern sind vielleicht unbeabsichtigt, aber keineswegs zufällig.

Ohne jeden Zynismus lässt sich indes feststellen: Es besteht ein beträchtlicher Unterschied zwischen den Leistungen, die ein Kreditinstitut zu erbringen hat, und denen, für die ein Krankenversicherer einsteht. Den Betroffenen ist deshalb nur zu raten, sich der aktuellen Entwicklung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in den Weg zu stellen: Erkundigen Sie sich bei Ihrer Krankenkasse nach dem Stand der Dinge. Machen Sie Ihr Anliegen öffentlich. Es geht für Sie um nicht weniger als um den Erhalt Ihrer Gesundheit und Ihrer Lebensqualität.

wp

 

Dieser Artikel erschien im RehaTreff (4/2014) und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
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