Gebraucht wird der Wille zur Veränderung

Protesttag der Menschen mit Behinderungen
Ilja Seifert. Foto: AWS/Rosdorff

Anlässlich des europaweiten Aktions- und Protesttages der Menschen mit Behinderungen erklärt namens des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ e.V. (ABiD), dessen Vorsitzender Ilja Seifert: „Die Staatenprüfung des UN-Fachausschusses für die Umsetzung der Behindertenrechts-Konvention bestätigte wesentliche Kritikpunkte, die der ABiD seit Jahren hervorhebt.

  • Noch immer besteht eine defizitbetonende, eher medizinische Sicht auf Behinderung.
    Gebraucht wird eine Definition, die die Wechselwirkungen von (individueller) Beeinträchtigung und (kollektiven) Umweltbedingungen erkennt und von da aus Veränderungen organisiert: Rechtsansprüche statt Wohlverhaltens-Almosen.
  • Noch immer besteht ein ungleich höheres Armutsrisiko für Menschen mit Behinderungen (und unsere Angehörigen).
    Gebraucht werden einkommens- und vermögensunabhängige Nachteilsausgleiche.
  • Noch immer ist das deutsche Schulbildungssystem von Separation geprägt.
    Gebraucht wird ein gut ausgestattetes inklusives Bildungswesen.
  • Noch immer besteht auch in der Beschäftigungspolitik ein tiefgestaffeltes System der Ausgrenzung und Separation.
    Gebraucht werden individuelle und kollektive Maßnahmen zum Ausgleich beeinträchtigungsbedingter Nachteile, um Chancengleichheit herzustellen. Es geht um „angemessene Vorkehrungen“ und um „umfassende Barrierefreiheit“.
  • Noch immer werden Menschen mit Behinderungen gegen ihren Willen – z.B. aus „Kostengründen“ – in Sonderwohnformen (Heime) gedrängt oder medizinisch behandelt („ruhig gestellt“).
    Gebraucht wird wirkungsvolles Wunsch- und Wahlrecht.
  • Noch immer besteht großer Mangel an Barrierefreiheit, sowohl bei Wohnungen und in der Kommunikation, als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen.
    Gebraucht werden verbindliche Regelungen zur Vermeidung neuer und zur Beseitigung bestehender Barrieren.
  • Noch immer gelten pauschale Wahlrechtsausschlüsse.
    Gebraucht wird ein Übergang von der ersetzenden zur assistierenden Entscheidungsfindung.

Deshalb bekräftigt der ABiD seine Forderungen:
1. Wir brauchen ein starkes Bundesteilhabe-Gesetz, das behinderungsbedingte Nachteile bedarfsgerecht ausgleicht.
Es muß den Gestus der „Wohltätigkeit“ aufgeben und stattdessen menschenrechtliche Ansprüche realisieren. Einkommen und Vermögen behinderter Menschen (und unserer Familien) müssen uns ebenso frei zur Verfügung stehen wie allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft.
2. Wir brauchen einen Pflege- und Assistenzbegriff, der das medizinisch-defizitbetonende Menschenbild überwindet und stattdessen teilhabe- und menschenrechtsorientiert ist.
Als Sofortmaßnahme wäre die Anhebung der Geldleistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) auf das Niveau der Sachleistungen möglich. Das löste zwar bei weitem nicht alle Probleme dieses „Teilkasko-Systems“, es würde aber vielen Familien helfen, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen.
3. Selbstvertretungs-Organisationen behinderter Menschen müssen in die Lage versetzt werden, ihre – gesetzlich verbrieften – Mitwirkungsrechte tatsächlich ausüben zu können.
Abhängig machende „Projekteritis“ muss verlässlicher institutioneller Förderung weichen.
4. Diskriminierende Wahlrechts-Ausschlüsse sind sofort und ersatzlos abzuschaffen.
5. Im Bundes-Baugesetz und in den Länder-Bauordnungen ist barrierefreies Bauen in allen Bereichen (öffentlich und privat) verbindlich festzuschreiben. Zuwiderhandlungen sind zu ahnden.
Parallel dazu brauchen wir ein – zunächst auf zehn Jahre angelegtes – mit mindestens 1 Mrd €uro/Jahr ausgestattetes Barrierenbeseitigungs-Programm als Maßnahme der Wirtschafts-Förderung.
Wir – die gesamte Gesellschaft – brauchen den Willen zur Veränderung!

  • Hin zu menschenrechtlichen Ansprüchen anstelle barmherziger Wohltätigkeit.
  • Hin zu finanziell und materiell abgesicherter Selbstbestimmung anstelle prekärer Abhängigkeit.
  • Hin zu umfassender Barrierefreiheit anstelle verzagter Untätigkeit.

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