Mit Handicap im Westernsattel

Kurs_Circle_L 014„Auf dem Pferd hast Du vier gesunde Beine!“

„Der wilde wilde Westen fängt gleich hinter Hamburg an“, hat die Band Truck Stop schon 1980 festgestellt. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Landidylle in Barsinghausen bei Hannover. Ein Mann in Cowboystiefeln kommt mit seinem Pferd die Ortsdurchfahrt entlang. Noch sitzt er nicht im Sattel, sondern rollt im Rollstuhl neben seinem Quarter Horse Judy, einem reinrassigen Westernpferd, an Hühnern und Ziegen vorbei. Andreas Bake trifft sich heute in einem Reitstall mit seinem Freund Birk zum Westernreiten. Der Maschinenbaustudent Birk Frerichs trägt Chaps, das Lederbeinkleid der Cowboys. An seinem linken Stiefel blinkt ein Rädchen-Sporen in der Sonne. Rechts blitzt unter dem Leder seine Beinprothese hervor. Birk Frerichs fehlt von Geburt an der rechte Unterschenkel samt Knie. Sein rechter Arm ist verkürzt, an der Hand hat er nur einen Finger.

Andreas Bake und Birk Frerichs sind Mitglieder des ParaWesternReiter e.V. Der erste Verein von Westernreitern mit Behinderung wurde 2008 gegründet und hat inzwischen über 40 Mitglieder aus ganz Deutschland. „Das Westernreiten ist für Menschen mit Behinderung besonders geeignet. Die Pferde sind sehr ruhig im Temperament und werden so geritten, dass sie schon auf kleinste Impulse reagieren. Sonst könnten die Cowboys mit ihnen keine Rinderherden treiben“, erläutert Andreas Bake. Der 48-Jährige hat eine Muskel-Stoffwechsel-Krankheit. Das Roussy-Levy-Syndrom brach bei ihm aus, als er drei Jahre alt war. Als er mit elf anfing zu reiten, konnte er noch laufen. Aber seit vielen Jahren schon versorgt er seine Pferde inzwischen komplett im Rollstuhl.

Wie kommt ein Rolli in den Sattel?

Putzen, Hufe auskratzen, den Westernsattel auf den Rücken der Fuchsstute werfen, das alles ist für Andreas kein Problem. Und Judy passt schön auf, dass sie ihm nicht in die Radspeichen des Rollstuhls tritt. Doch wie steigt man vom Rolli aus auf ein Pferd? Auch das ist für Andreas Bake eine Routineübung. Lässig schiebt er sich im Sitz hoch und platziert sein Gesäß erst mal auf dem Seitenteil des Stuhls. So an Höhe gewonnen, kann er sich in den Westernsattel hochziehen. Ein kurzer Schnalzer, und Judy schreitet mit ihm brav in Richtung Reitplatz. Auf dem Kopf trägt Andreas allerdings keinen Cowboyhut. Der sichere Reithelm setzt sich auch in der Szene der Westernreiter mehr und mehr durch.

Die leckeren Falläpfel neben dem Zaun ignoriert Judy tapfer, denn hier wird jetzt erst einmal gearbeitet. Birk Frerichs ist mit seinem Wallach Doc schon mitten in einem L. Stangen liegen in L-Form auf dem Boden. Eine Aufgabe beim Westernreiten ist es, das Pferd rückwärts da durchzusteuern. Oder: Das Pferd geht seitwärts, dabei immer die Stangen zwischen Vorder- und Hinterbeinen. Wie beim Dressurreiten soll mit dieser Übung der Gehorsam des vierbeinigen Freundes gesteigert und bewiesen werden. Auch auf die Holzrampe am Boden setzt Doc ohne Zögern nach und nach seine vier Hufe, bis Birk wieder das Signal zum „Abstieg“ gibt. (Mehr zu den Disziplinen des Westernreitens im Infokasten).

Angepasste Kommandos

Die Einwirkung mit den Beinen ist für Reiter sehr zentral. Birk gleicht den mangelnden Druck seines rechten Prothesenbeines mit den Zügelenden aus, die er dem Pferd leicht an die Seite schwingt. Da er nur seine linke Seite voll einsetzen kann, kommt ihm die einhändige Reitweise der Westernreiter, die auf die Lasso schwingenden Cowboys zurückgeht, sehr entgegen. Auch Andreas Bake kann mit seinen Beinen kaum noch Impulse an das Pferd senden. Deshalb gibt er die Kommandos mit Zügeln, Stimme und Gewichtsverlagerung. Damit seine Beine im Sattel nicht hochrutschen, hat er Bucking Rolls am Sattel. Diese runden Stopp-Kissen kommen aus der Rodeo-Reiterei. Die Westernsättel bieten auch Menschen mit Behinderung durch ihr Horn vorn und die erhöhte Sitzkante besonders viel Halt. Außerdem sind sie sehr bequem, und man reitet sich auf ihnen nicht so schnell wund.

Ein Falltraining kann nützlich sein

Durch einen Zaun schnattern ein paar kaum sichtbare Gänse. Judy scheut, doch Andreas Bake hat alles im Griff. Sicher balanciert er das Getänzel aus. Lässig treibt er sein Pferd in einen ruhigen Galopp. Angst vor einem Sturz kennt er nicht: „Ich habe als Jugendlicher bei meiner Reitlehrerin ein Falltraining mitgemacht. Da mussten wir uns im Galopp vom Pferd fallen lassen. Locker bleiben, rund machen und über die eigene Schulter vom Pferd wegrollen, dann passiert nichts.“ Ob das allerdings immer so einfach ist? Andreas jedenfalls ist noch nie etwas passiert, und Birk hat bisher nur seine Prothese bei einem unfreiwilligen Abgang „geschrottet“. Doch das nimmt er für sein Hobby gern in Kauf. Die beste Versicherung sei immer noch ein gut ausgebildetes Pferd. Westernpferde durchlaufen eine etwa dreijährige Ausbildung, bis sie sicher die verschiedenen Lektionen beherrschen. Deshalb kostet ein gutes Quarter Horse in der Regel mindestens 5000 Euro. Aber man kann ja als Anfänger erst mal Reitstunden nehmen. So hat Birk auch begonnen und seinen Doc, der eigentlich FR Doctor Pierre heißt, erst später gekauft. Westernpferde haben ähnlich klangvolle Namen wie jene, die man aus der Hundezucht kennt. So heißt die achtjährige Judy eigentlich Invester Certified – aber so will sie ja kein Mensch rufen.

Frei sein und genießen

Westernreiten bedeutet für den 27-jährigen Birk Frerichs frei zu sein: „Das Leben mit einer Behinderung bringt sehr viele Einschränkungen mit sich. Auf dem Pferd aber bist Du frei, wie jeder andere. Jeder, der auf einem Pferd sitzt, hat automatisch vier gesunde Beine.“ Auch Andreas Bake genießt die durch das Pferd gewonnene Mobilität. Er reitet mit seiner Stute regelmäßig ins Gelände. „Für mich ist das Reiten eine Möglichkeit, die Natur zu erleben und wahrzunehmen.“ Außerdem wirke sich der Sport positiv auf seinen Körper aus. Er bringt die notwendige Durchblutung für die Beine.

Die Parawesternreiter treffen sich regelmäßig zu Trainingswochenenden und auf den großen Turnieren der Westernreitverbände. Dort gibt es seit einigen Jahren Prüfungen für Menschen mit Behinderung. Die Begegnungen mit anderen Reitern bedeuten auch Andreas Bake viel. „Wir sind inzwischen eine richtig eingeschworene Gemeinschaft. Und wenn unsere Leistungen in den Prüfungen anerkannt werden, gibt das Selbstbewusstsein.“

Der Traum von Trapperpfaden

Natürlich ist der Wilde Westen in Deutschland längst nicht so attraktiv wie das Original. Einmal mit dem Pferd über die alten Trapperpfade der Rocky Mountains zu reiten oder eine Rinderherde durch die Prärie zu treiben, davon träumen die Parawesternreiter gern. Judy jedoch holt ihren Andreas immer schnell wieder in das Hier und Jetzt zurück. Wie der Blitz schnellt ihr Kopf zur Seite, den Zweig, den der stolze Reiter als Gerte von einem Baum abgebrochen hat, schiebt sie sich kurzerhand zwischen die Zähne – wenn schon kein Apfel, dann immerhin das!

Ein kooperatives Pferd

Zeit, das Training für heute zu beenden. Sicher gleitet Andreas Bake wieder in seinen Rollstuhl zurück. Kurz absatteln, dann geht es zurück auf den Pferdehänger. Judy lässt sich von ihrem „Cowboy“ sogar ohne fremde Hilfe verladen. Geübt wuchtet Andreas Bake die Heckklappe des Hängers empor. Für Andreas heißt es jetzt: Abfahrt in Richtung Familie. Seine Frau Carola und Sohn Alexander warten schon im 30 km entfernten Apelern. Dort darf die Familie alles, nur nicht eins: ihrem Oberhaupt „das Reiten verbieten.“

Katja Rosdorff

 

Westernreiten – ein „bunter Strauß“ an Disziplinen

Das Westernreiten bietet eine Fülle von Disziplinen, die auf Turnieren geritten werden. Am Populärsten sind „Cutting“ und „Working Cowhorse“. Bei den so genannten Rinderdisziplinen müssen die Westernreiter wie die richtigen Cowboys ihr Geschick im Treiben und Einfangen von Rindern unter Beweis stellen. Auch beliebt ist das rasante „Reining“, bei dem Pferd und Reiter unter anderem blitzschnell aus dem schnellen Galopp Vollbremsungen und 180-Gradwendungen vollführen. Die Wendigkeit und Schnelligkeit des Pferdes ist bekanntlich beim Rindertreiben ebenfalls unabdingbar.

Bei der Geschicklichkeitsprüfung „Trail“ überwinden die Reiter verschiedene Hindernisse. Sie öffnen vom Pferd aus Weidetore und schließen sie wieder oder reiten über Brücken und durch besagtes Stangen-L . Es gibt noch viele andere Parcoursvorgaben mit Kegeln und Tonnen zum Beispiel, durch die etwa ein Slalom geritten wird. Beim „Western Horsemanship“ werden hauptsächlich die Hilfengebung und die Haltung des Reiters beurteilt. Für weniger erfahrene Reiter mit einer Behinderung gibt es auch Führzügelklassen, bei denen das Pferd von einem Helfer geführt wird.

Auskünfte: ParaWesternReiter e.V. , Elinor Switzer, Postfach 140146, 70071 Stuttgart, Tel.: 0179/4348956, E-Mail: kontakt@parawesternreiter.de, Internet: www.parawesternreiter.de.

 

 

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