Rolle rückwärts beim Bundessozialgericht zulasten der Patienten

Das Patientenrechtegesetz, welches 2013 eindeutige Fristen für Entscheidungen von Krankenkassen zum Beispiel über Hilfsmittelgenehmigungen setzte, wurde von allen Selbsthilfe- und Fachverbänden begrüßt. Nun macht das Bundessozialgericht eine Rückschritt zu Ungunsten der Betroffenen; die Möglichkeit, nach Fristablauf ein Hilfsmittel im Rahmen der Genehmigungsfiktion selbst zu beschaffen, wurde eingeschränkt, indem dieses nun eine so genannte „vorläufige“ Rechtsposition darstellt. Die Betroffenen müssen unter vagen Annhamen das Hilfsmittel ordern und selbst bezahlen und wissen nicht, ob unter Umständen nach Jahren der Widersprüche und Klagen die Kassen die Kosten übernehmen. Ein „Aus“ für die meisten Familien mit Kindern mit Behinderungen.

Ein Kommentar des rehaKInd-Vorsitzenden Jörg Hackstein.

Mit dem Patientenrechtegesetz im Jahre 2013 wollte der Gesetzgeber die Patientenrechte stärken und unter anderem die gesetzlichen Krankenkassen zu schnelleren Entscheidungen zwingen. Krankenkassen müssen seitdem über Anträge innerhalb von drei beziehungsweise fünf Wochen (wenn Gutachten eingeholt wird) entscheiden. Wird diese Frist versäumt, tritt die sogenannte Genehmigungsfiktion ein. Die Leistung gilt als genehmigt wie beantragt.

Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist die Zeit, die zwischen Beantragung eines Hilfsmittels und dessen Auslieferung verstreicht, extrem wichtig, weshalb rehaKIND e.V. die klaren Regelungen des Patientenrechtegesetzes sehr begrüßte. Ohne individuelle, altersgerechte Hilfsmittel werden unter Umständen echte Entwicklungschancen für die Zukunft vertan und Möglichkeiten zur Verbesserung von Teilhabe und Aktivitäten der jungen Menschen verschenkt.

Über Jahre hinweg hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) dies zu Gunsten der Patienten bestätigt und zwar unabhängig davon, ob sich Patienten die beantragte Leistung, zum Beispiel das benötigte Hilfsmittel, selbst beschafft haben (Kostenerstattung) oder die Krankenkasse zur Gewährung der Sachleistung verpflichtet werden musste.

Ohne Not und zulasten der Patienten hat der 1. Senat diese positive Rechtsprechung mit Urteil vom 26. Mai 2020 (B 1 KR 9/18 R) aufgegeben. Nach der veröffentlichten Presseinformation des BSG wird über die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V eine vorläufige Rechtsposition zugebilligt, wenn der Patient sich die beantragte Leistung selbst beschafft, wenn die Krankenkassen die gesetzlichen Fristen nicht einhält.

Diese vorläufige Möglichkeit der Selbstbeschaffung gilt aber nur so lange, bis die Krankenkasse eine Entscheidung über den Antrag trifft. Sobald die Krankenkasse, auch verspätet, eine Entscheidung getroffen hat, endet die Möglichkeit der Selbstbeschaffung.

Am Beispiel der Hilfsmittelversorgung erläutert Rechtsanwalt Jörg Hackstein, rehaKIND-Vorsitzender: Um die Genehmigungsfiktion nutzen zu können, müssen sich nun Patienten zwischen Fristablauf und verspäteter Entscheidung der Krankenkasse ein Hilfsmittel auf eigene Rechnung selbst anschaffen. Wenn Patienten sich das Hilfsmittel nicht selbst anschaffen, hilft ihnen die Genehmigungsfiktion trotz verspäteter Entscheidung der Krankenkasse nicht weiter. Selbstbeschaffung bedeutet die Anschaffung des Hilfsmittels durch die Patienten auf eigenes wirtschaftliches Risiko. Gegebenenfalls wird nämlich erst in einem noch lang andauernden Widerspruchs- und Klageverfahren geklärt, ob die Anschaffung zu Recht erfolgte.

„Es ist davon auszugehen, dass nur wenige Familien bereit sein werden, dieses wirtschaftliche Risiko zu tragen, wenn sie es sich überhaupt finanziell leisten können. Damit hat das Bundessozialgericht die Rechte der der Patienten deutlich geschwächt. Wenn der Gesetzgeber weiter Interesse an der Stärkung der Patientenrechte und insbesondere an schnellen Entscheidungen der Krankenkassen hat, muss er das Nichteinhalten von Entscheidungsfristen zugunsten der Patienten auf Seiten der Kostenträger effektiv sanktionieren und dies vor allem auch für den Sachleistungsanspruch sicherstellen. Die wenigsten Patienten können es sich auf eigenes Risiko erlauben, Leistungen selbst zu beschaffen.“

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