Selbstbehauptungskurs für Menschen mit Behinderung

„Wehre Dich mit allem, was Du hast!“

Eine junge Frau liegt flach auf dem Rücken – auf ihr drei starke Personen. Diese halten sie so fest, dass sie sich nicht mehr rühren kann. Sie versucht sich zu befreien, doch ihre Arme und Beine bewegen sich keinen Zentimeter. Sie gerät in Panik, fängt an zu schreien und zu weinen – schließlich beruhigen sie die Frau. Es ist Christine, Teilnehmerin eines Selbstbehauptungsseminars für behinderte Menschen im Jugend- und Erwachsenenalter. Dazu eingeladen hat der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm).

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Etwa ein Dutzend Teilnehmer bilden in dem Seminarraum in der Stuttgarter Jugendherberge einen Rollstuhlkreis um die Frau. Langsam gewinnt sie ihr seelisches Gleichgewicht zurück. „Ein Kursziel ist für uns, dass die Teilnehmer in Extremsituationen lernen, sich psychisch ruhig zu verhalten“, erklärt Kursleiter Helmut Gensler diese „Kokonübung“. „Dabei müssen wir eine Grenze erreichen und diese auch überschreiten. Nur so kann man üben, in Notsituationen nicht in Panik zu geraten.“ Der Sonderschullehrer aus Bayern ist sich bewusst, dass nicht jeder Selbstverteidigungscoach so weit geht. Aber die positive Resonanz seiner Kursteilnehmer gibt ihm Recht.

"Gegen Nazis" steht auf einem Aufkleber. Der Besitzer des Rollstuhls hat schlechte Erfahrungen mit Rechtsradikalen gemacht.
„Gegen Nazis“ steht auf einem Aufkleber. Der Besitzer des Rollstuhls hat schlechte Erfahrungen mit Rechtsradikalen gemacht.

„Nazis raus!“

Jan Henrik Schmidt aus Göttingen ist schon zum vierten Mal dabei. Der 39-Jährige sitzt im Elektrorollstuhl. Eine Erkrankung des zentralen Nervensystems führte bei ihm im Kleinkindalter zu einer Spastik, die ihm auch das Sprechen erschwert. Sein Vater Wolfgang begleitet ihn zu den Kursen und hilft ungeübten Ohren, Jan zu verstehen. Jan Henrik Schmidt möchte lernen, sich besser zu verteidigen. Einen Grund dafür, kann man auf seinem Rollstuhl nachlesen: „Nazis raus!“, steht auf einem abgewetzten Aufkleber. „Ich bin einmal spät abends mit der Bahn von Stuttgart nach Göttingen gefahren. In dem Abteil haben alle Reisenden geschlafen. Plötzlich ging die Tür auf und eine Horde Nazis kam herein. Sie schimpften, seit wann die Bahn denn Krüppel transportiere. Ich hätte denen gern etwas erwidert. Aber ich habe mich nicht getraut“, erinnert sich Jan. Ein Freund sagte dann zu ihm: „Es ist gut, dass Du zu dem Kurs gehst, die Angriffe werden immer mehr.“

Doch wie soll man sich in einer solchen Situation richtig verhalten? Noch dazu, wenn man in einem Elektrorollstuhl sitzt und sich nicht gut artikulieren kann? Für Kursleiter Helmut Gensler gibt es kein allgemeingültiges Rezept. Und klar ist auch, dass man in einem zweitägigen Kurs nicht all zu viel vermitteln kann. Eine intensive Schulung mit wöchentlichem Training sei natürlich viel wirkungsvoller. In der Schule für Körperbehinderte in Coburg, an der der 59-Jährige unterrichtet, gehören Selbstbehauptung und Selbstverteidigung zu den Schulsportdisziplinen.

Mit der richtigen Technik kann man auch vom Rollstuhl aus Angreifer abwehren, demonstriert Kursleiter Helmut Gensler.
Mit der richtigen Technik kann man auch vom Rollstuhl aus Angreifer abwehren, demonstriert Kursleiter Helmut Gensler.

In Angstsituationen Hilfe holen

„Die richtige Verteidigungsstrategie“, so Gensler, „richtet sich nach den individuellen Fähigkeiten.“ Oberstes Ziel sei natürlich, einen körperlichen Konflikt erst gar nicht entstehen zu lassen. Vor der Selbstverteidigung komme deshalb die Selbstbehauptung. Und davor stehe noch die Strategie, frühzeitig brenzlige Situationen auszuschließen. Eine Grundregel ist deshalb, stets die Augen offen zu halten. „Man sollte also nicht mit seinem Rollstuhl mitten in eine Gruppe von Betrunkenen oder nachts um 3 Uhr allein durch eine Kneipenmeile rollen“, warnt Gensler.

Der Selbstverteidigungslehrer rät außerdem dazu, sich in Angstsituationen Hilfe zu holen. So kann man sich von vornherein auf unangenehmen Wegen begleiten lassen oder, wenn unterwegs plötzlich Gefahr droht, mit dem Handy jemanden anrufen – nicht gleich die Polizei, lieber Bekannte. „Wer Unterstützung benötigt, kann auch einfach Passanten fragen, ob sie ihn ein Stück begleiten oder zum nächsten Café gehen und um Hilfe bitten“, zählt Gensler weitere Möglichkeiten auf. Wer all diese Tipps berücksichtige, könne schon etwa 50 Prozent aller gefährlichen Situationen vermeiden.

Opferlamm war gestern

Ein ganz wichtiges Thema bei diesem Seminar ist das Selbstbehauptungstraining. Co-Referentin Nora Schünemann fordert die Teilnehmer auf, sich ganz normal durch den Raum zu bewegen. Auch Jan rollt einmal quer durch den Raum. „Was fällt Euch an ihm auf?“, fragt sie in die Runde. – „Jan beugt seinen Oberkörper nach vorn und blickt

Auch der Elektrorollstuhl kann gegen Angreifer eingesetzt werden. "Damit kannst du Deinem Kontrahenten sogar das Bein brechen", veranschaulicht Helmut Gensler.
Auch der Elektrorollstuhl kann gegen Angreifer eingesetzt werden. „Damit kannst du Deinem Kontrahenten sogar das Bein brechen“, veranschaulicht Helmut Gensler.

nach unten“, lautet die Antwort der Teilnehmer. Genau das, so lernen sie, sind aber Opfereigenschaften. Jan ist kein Einzelfall. „Viele Menschen begeben sich durch ihre Körpersprache unbewusst in eine Opferrolle. Jeder sendet Botschaften, nicht kommunizieren geht nicht“, erklärt Nora Schünemann den „Opferlämmern“ von gestern. Denn von nun an halten sie sich gerade, vermeiden künftig, verkrampft zu grinsen oder sich zu schnell zu bewegen. Sogar die Kleidung spielt eine Rolle. „Wer seine Körpersprache auf eine Demutshaltung hin überprüfen möchte, sollte sich einmal von Freunden filmen lassen und sie nach ihrer Meinung fragen“, rät die Fachfrau.

Nach einer kurzen Pause geht es dann zur Sache: Selbstverteidigung steht auf dem Kursprogramm. Der Fußgänger Helmut Gensler setzt sich in einen Rollstuhl und lässt sich von anderen Fußgänger-Männern angreifen. Möglichkeiten, sich zu wehren, gibt es auch im Rollstuhl. Dabei lautet das Motto: „Wehre Dich mit allem, was Du hast!“ Kratzen, Beißen, Treten, Schlagen (auf alle empfindlichen Körperteile des Angreifers), Schreien. Man sollte nicht um Hilfe rufen, sondern stattdessen: „Weg!“, „Loslassen!“, „Aua!“.

Schlagübung: "In dir steckt mehr Kraft als Du denkst!"
Schlagübung: „In dir steckt mehr Kraft als Du denkst!“

„Mörder morden aus Angst vor Entdeckung“

Wer auf der Straße angepöbelt wird, sollte erst einmal versuchen, dies zu ignorieren oder die Situation verbal zu entschärfen. Aber wenn das nicht fruchtet, muss man mit allen Mitteln kämpfen, lernen die Kursteilnehmer. „Wehren sollte man sich auf jeden Fall“, empfiehlt Nora Schünemann. „Mörder morden aus Angst vor Entdeckung, egal ob sich jemand gewehrt hat oder nicht.“ Dann zitiert sie eine Statistik, nach der etwa 80 Prozent der Sexualtäter sagen: „Wenn sich das Opfer gewehrt hätte, hätte ich aufgehört.“ Allerdings rät die Referentin davon ab, Waffen zur Selbstverteidigung zu benutzen. Die Gewalt bekäme dadurch eine andere Dimension und Waffen würden ganz schnell gegen einen selbst eingesetzt. Allerdings kann man einen Elektrorollstuhl als Waffe einsetzen. Christine demonstriert das auch gleich mal, indem sie Meister Helmut über den Haufen fährt. Der rettet sich mit einer gekonnten Hechtrolle auf die Matte.

Kae-In-Sog-In

Helmut Gensler ist Kae-In-Sog-In-Lehrer. Der Begriff ist koreanisch und bedeutet Vielfalt. Kae-In-Sog-In (KISI) ist keine in sich geschlossene, hierarchisch orientierte Kampfsportart, sondern offen für alle anerkannten pädagogischen und psychologischen Ideen, die zur Stärkung des Selbstbewusst­seins und der Selbstbehauptung von Menschen führt. Prinzipien aus den verschiedensten Kampfkünsten werden auf die Fähigkeiten des einzelnen Teilnehmers angepasst und trainiert. Die Schlagkraft ist bei einigen der Teilnehmer verständlicherweise nur begrenzt ausbaubar. Aber sie verlassen mit einem neuen Selbstbild, mehr Vertrauen in die eigenen Stärken und weniger Angst den Seminarraum in der Stuttgarter Jugendherberge, und sie haben sich ein ganzes Stück mehr Freiheit und Zutrauen erkämpft für ihre künftigen Unternehmungen.

Katja Rosdorff

 Kontaktadressen:

Näheres zu den Seminaren erfahren Interessierte beim Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V., Brehmstraße 5-7, 40239 Düsseldorf. Weitere Informationen zu dem Breitensport KISI sind im Internet erhältlich unter: www.kae-in-sog-in.de

Aktuelle Kurstermine finden sich hier.

 

 

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