Wegweisendes Urteil zum ReWalk-Exoskelett

ReWalk Exoskelett für Kassenpatienten
Auch RehaTreff-Redakteur Werner Pohl hat schon die Vorzüge des Exoskeletts erkundet (siehe RT3/2015). Foto: Daniela Böhm

Das Sozialgericht Speyer hat in seinem Urteil vom 20.05.2016 (AZ: S 19 KR 350/15) entschieden, dass die gesetzliche Krankenversicherung einen Querschnittgelähmten mit einem ReWalk-Exoskelett versorgen muss. Weil im Zuge der Urteilsverkündung die Gründe regelmäßig nur kurz angerissen werden, haben die Parteien des Rechtsstreits und ihre Bevollmächtigten, wie auch die interessierten Fachkreise und Juristen das schriftliche Urteil mit größtem Interesse erwartet. Nun, seit Ende Juli 2016, liegt die Entscheidung vor: Die Begründung überzeugt in vollem Umfang und stärkt die Rechte von gesetzlich krankenversicherten Paraplegikern.

Das Hilfsmittel

Das ReWalk-System beinhaltet eine am Körper tragbare „Exoskelett-Orthese“, die Computer gesteuert und Motor betrieben ist, mitsamt der Steuereinheit und Energieversorgung. Es ermöglicht Menschen mit einer Rückenmarksverletzung durch motorisierte Hüften und Knie wieder aufrecht zu stehen, zu gehen und Treppen hinauf- und hinabzusteigen. Diese computergesteuerte exoskelettare Rumpf-Bein-Orthese führt Beine und Füße in ihrem natürlichen Bewegungsablauf und macht so wieder ein unabhängiges, kontrolliertes Stehen und Gehen möglich.

Der Kläger ist aufgrund eines unverschuldeten Unfalls ab dem Brustwirbelbereich abwärts gelähmt. Nach einem zweiwöchigen Trainingsaufenthalt in einer Reha-Klinik bescheinigten ihm die Fachärzte eine sehr gute medizinische Rehabilitation. Sie gaben zudem die Prognose ab, dass er mit dem Exoskelett nach weiterem Anwendungstraining Strecken auch von mehr als 500 Metern werde gehen können. Diese Prognose konnte der Betroffene durch eine in der Reha-Klinik angefertigte Video-Dokumentation untermauern.

Die Krankenkasse

Sie hatte den Antrag mit der Begründung abgelehnt, der Versicherte habe schon einen Rollstuhl und eine Stehhilfe. Das Exoskelett sei unwirtschaftlich und führe auch nur zu einem mittelbaren Behinderungsausgleich. Im Übrigen liege noch keine evidenzbasierte medizinische Untersuchung oder Studie vor, die etwaige Alltagsvorteile für die behinderten Menschen durch diese Hilfsmittelanwendung belegten. Im Zuge des Klageverfahrens hat die Krankenkasse zusätzlich ins Feld geführt, dass das streitige Medizinprodukt auch nicht mit einer Prothese vergleichbar sei, da es kein Körperteil direkt ersetze. Folglich sei damit auch kein aktives Gehen möglich, sondern allenfalls eine „Sonderform der passiven Fortbewegung“.

MDK-Gutachten

Nachdem der Schwerbehinderte das Exoskelett über sein Sanitätshaus bei der Krankenkasse beantragt hatte, holte diese zur medizinischen Beurteilung zwei Gutachten des MDK, des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, ein: das erste Gutachten kam zwar zu dem Ergebnis, dass der gesetzlich Versicherte mit den bereits vorhandenen Hilfsmitteln ausreichend versorgt sei, stellte aber auch fest, dass er in dem „Roboter-Skelett“ stehen und gehen könne; das zweite MDK-Gutachten nebst ergänzender Stellungnahme bestätigte die Erforderlichkeit des neuen Hilfsmittels sogar uneingeschränkt. Dennoch lehnte die Kasse die Versorgung mit dem Exoskelett ab. Der dagegen gerichtete Widerspruch des gesetzlich Versicherten blieb erfolglos.

Das Urteil des Sozialgerichts

Vor Gericht bekam jedoch der schwerbehinderte Kläger Recht. Das Sozialgericht Speyer hat einen unmittelbaren Behinderungsausgleich durch das ReWalk-Exoskelett bejaht und die Krankenkasse zur Leistung verurteilt. Ob ein neuartiges Hilfsmittel von den gesetzlichen Krankenkassen zur Verfügung gestellt werden muss, hängt davon ab, ob es für den Ausgleich einer schon bestehenden Behinderung, für die Vermeidung einer drohenden Behinderung oder für die Sicherung eines Behandlungserfolges erforderlich ist. Am einfachsten sind diese Fragen zugunsten der Versicherten zu beantworten, wenn das Medizinprodukt schon im amtlichen Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist. Aber auch Hilfsmittel, die noch nicht amtlich gelistet sind, können der Leistungspflicht der Krankenkassen unterliegen. So lag der Fall auch hier: das neuartige ReWalk-Exoskelett ist nicht im Hilfsmittelverzeichnis enthalten.

Rollstuhl vs. Exoskelett

In seiner Begründung zeigt das Gericht die erheblichen Unterschiede zwischen einer Fortbewegung im Rollstuhl, sowie einem Stehen im Stehtrainer einerseits und einem Stehen und Gehen im Exoskelett andererseits auf. Nach Würdigung der MDK-Gutachten und der vorgelegten Video-Dokumentation über das Gehtraining des Klägers sind die Richter überzeugt, dass das neue Hilfsmittel uneingeschränkt einen unmittelbaren Behinderungsausgleich gewährleiste; ein Rollstuhl führe demgegenüber nur zu einem mittelbaren Ausgleich. Der Kläger könne mit der neuen motorisierten Orthese selbstbestimmt im Haus, wie auch im Nahbereich seiner Wohnung sicher stehen und gehen. Er sei auch in der Lage, das Orthesen-System selbst an- und abzulegen. Die Gewährleistung des Grundbedürfnisses eines selbständigen, eigenbestimmten Gehens und Stehens machten den Unterschied zur Rollstuhlversorgung aus. Denn das ReWalk-Exoskelett ersetze die durch die Querschnittlähmung weggefallenen körperlichen Bewegungsfunktionen weitgehend. Das Sozialgericht weiter: „Auch wenn nicht absehbar ist, ob der Kläger die Orthese nach einer gewissen Zeit der Gewöhnung und des Trainings mehr als nur ein paar Stunden täglich wird nutzen können, entfällt deshalb nicht die Erforderlichkeit der Versorgung … selbst die Möglichkeit, für wenige Stunden am Tag aufrecht zu gehen, (ist) ein nachvollziehbar großer und damit alltagsrelevanter Bewegungszugewinn.“

Rechtsgrundlagen

Als Rechtsgrundlagen zieht das Sozialgericht Speyer § 33 Abs. 1, Satz 1 SGB V in Verbindung mit § 26 Abs. 2, Nr. 6 und § 31 Abs. 1, Nr. 3 SGB IX heran.

Unter ausführlicher Darlegung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts arbeitet das Urteil aus Speyer zur entscheidenden Frage der Erforderlichkeit des Hilfsmittels so sorgfältig wie nachvollziehbar heraus, dass das Exoskelett einem unmittelbaren Behinderungsausgleich dient: Dieser ist dann gegeben, wenn …“das Hilfsmittel unmittelbar dem Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst dient…“ Hingegen führe ein Hilfsmittel, welches “zum Ausgleich der direkten und indirekten Behinderungsfolgen eingesetzt wird…“, nur zu einem mittelbaren Behinderungsausgleich.

Die Richter haben zudem herausgestellt, dass querschnittgelähmte Menschen Anspruch auf einen möglichst vollständigen funktionellen Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktionen haben und folglich Hilfsmittel des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts verlangen können.

Wirtschaftlichkeitsgebot

Das ReWalk Exoskelett ist nach Ansicht der Richter auch nicht unwirtschaftlich, denn … “das Wirtschaftlichkeitsgebot kann also erst dann greifen, wenn es mehrere funktionell zumindest gleich geeignete Versorgungsmöglichkeiten gibt.“ Solche gleichwertigen Versorgungsalternativen hat das Gericht aber ausdrücklich verneint. Denn weder die Krankenkasse selbst, noch die Gutachter des MDK haben hinreichende Hilfsmittel-Alternativen aufzeigen können.

Folgen für die Hilfsmittelversorgung

Das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 20.05.2016, S 19 KR 350/15, beinhaltet die erste obsiegende sozialgerichtliche Entscheidung zugunsten gesetzlich versicherter Paraplegiker. Freilich ist das Urteil noch nicht rechtskräftig; dennoch lassen sich seinen Entscheidungsgründen die einschlägigen materiell-rechtlichen Kriterien und tragfähigen Argumente entnehmen, die für die Durchsetzung des Anspruchs auf eine gesetzliche Hilfsmittelversorgung gegenüber den Krankenkassen erfüllt sein müssen. Der Richterspruch aus Speyer gibt für alle ähnlich gelagerten Fälle, gleich ob sie sich schon in förmlichen Verfahren (Verwaltungs-, Widerspruchs- oder Klageverfahren) befinden oder ob sie erst zukünftig durch einen Antrag an die Krankenkasse eingeleitet werden, die Ausschlag gebende Richtung vor.

Autor: Rechtsanwalt Jörg Holzmeier © / Fachanwalt für Medizinrecht / Stand: 25.07.2016

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