Ein Schlüssel zur Autonomie

Das Thema Sonderbau nimmt im Versorgungsalltag einen bedeutenden Stellenwert ein – Tendenz steigend. Die Vorteile einer detaillierten Betrachtungsweise aller Versorgungsaspekte verdeutlicht das Beispiel eines jungen Mannes, der an Schneckenbecken-Dysplasie leidet. Was sind die Ziele einer indi­viduell entwickelten Reha-Maßnahme, bei der die Möglichkeiten des Benutzers im Vordergrund stehen? Die Frage nach einer ­Reha-Strategie: „Was soll der Patient durch das Hilfsmittel können?“ Denn „rehabilitieren” heißt wörtlich: zu etwas (wieder) befähigen; und nicht: den Status Quo einer Erkrankung einzufrieren.

Der Weg zur Autonomie

Ein Beispiel für diesen Strategie-Wechsel ist Vincent (Name von der Redaktion geändert). Ein junger Mann, der Physik studieren und später im Forschungsbereich tätig werden möchte. Augrund einer seltenen, angeborenen Erkrankung, deren Hauptmerkmal eine auffällige Form der Hypoplasie des Beckens ist und die unteren Gliedmaße einen dysproportionierten Kleinwuchs aufzeigen, kann er nicht alleine sitzen (auch nicht mit einer Orthese). Sein Becken ist zu schwach und die Beine sind zu kurz, um das Gewicht des Rumpfes zu tragen beziehungsweise auszubalancieren. Um von A nach B zu kommen, musste Vincent bisher in einer Liegeschale auf einem Schalenuntergestell geschoben werden. Sein „Schatten“, wie der junge Mann seinen Pfleger nannte, hat ihn auf Schritt und Tritt verfolgt. Privatsphäre? Nullkommanull. Lebensqualität? Noch weniger, weil er permanent auf fremde Menschen angewiesen war und nichts autonom machen konnte. Beim Gedanken an ein Studium stellten sich ihm viele Fragen: „Wie soll ich das schaffen? Alleine? Zu den unterschiedlichsten Zeiten, oft mehrmals täglich, in die Uni kommen? Dort von einer Vorlesung in die nächste hetzen? Spontan mit Studienkollegen treffen zum Fachsimpeln oder Lernen?” Bei solchen Gedanken verfluchte er seine Krankheit, denn Rollstuhlfahren war für ihn nicht möglich. Jedenfalls nicht aktiv. Bis vor knapp einem Jahr. 

Eine Lösung muss her

Kapitulieren kam für Vincent nicht in Frage. Er wollte studieren und endlich sein Leben so weit wie möglich autonom bestreiten. Gemeinsam mit seinem Therapeuten und dem Leiter Sonderbau von SORG Rollstuhltechnik wurde in einem Gespräch gefachsimpelt. Zum ersten Mal wurden Vincents Fähigkeiten ins Zentrum gestellt. Aus dem früheren „Was kann er noch?“ wurde die strategische Frage: „Was soll er mal können können? Wozu soll Vincent befähigt werden?“ So viel war klar: Mit einer Standard-Versorgung konnte man an seiner Selbstständigkeit nichts verändern. Alles oberhalb der Räder war unklar. Und über allem hing das Damokles-Schwert: Wie soll jemand, der nicht sitzen kann, jemals Rollstuhl fahren können? Gesucht war der Schlüssel für Vincents Autonomie.

Erste Überlegungen

Sitzen kann Vincent nicht. Aber im Liegen autonom einen Rollstuhl fahren ist auch nicht möglich, weil er nicht an die Antriebsräder kommt. Es sei denn, sie wären so groß, dass sie bis über seinen Rumpf reichen. Oder man legt Vincent tief, dass er mit den Händen an die Greifreifen kommt. So oder so: Das Antreiben des Rollstuhls mit horizontal ausgestreckten Armen im Liegen würde schnell zu Ermüdung führen. Dann gab es auch noch das Thema „Sicht“. Wer auf dem Rücken liegt, kann die Sterne beobachten, sieht aber nicht, wem er im Chaos eines bevölkerten Uni-Korridors gerade in die Hacken fährt. Ihn am Kopfende höher legen, damit er seinen Weg sieht? Den ganzen Menschen schräg lagern? Kam auch nicht in Frage. Denn wer jemals einen Tag in einem Krankenhausbett verbracht hat, weiß, wie lästig ein schräggestelltes Kopfende sein kann. Man rutscht unaufhaltsam Richtung Fußende und muss permanent korrigieren. Das aber kann Vincent nicht alleine. Die Antriebsräder weiter nach vorne versetzen, Richtung Lenkräder, damit sie besser erreichbar sind, ging deswegen nicht, weil dann der Rollstuhl durch den ungünstigen Schwerpunkt nach hinten umgekippt wäre. Die Rückenliege-Option war damit eine Sackgasse. Was blieb übrig? Auf dem Bauch liegen. Die Bäuchlingshaltung hätte immerhin den Vorteil, dass Vincent sehen könnte, wohin er fährt. Allerdings hätte man dann das Problem, dass die Antriebsräder zu weit hinten sind, um sie erreichen zu können. 

Die technische Lösung

Schnell war klar: Geht nicht gibt’s nicht. Wir tauschen einfach die Räder. Die kleinen nach hinten, die großen nach vorne. Ein Rollstuhl also, der „falsch“ herum gebaut werden müsste. Und zwar einer, der statt einer Sitzschale eine Bauch-Liege-Schale aufnehmen kann. Gemeinsam mit dem Therapeuten wurde Vincent auf den Bauch gelegt, um eine Papp-Silhouette von ihm zu zeichnen. Hiermit konnte das Sanitätshaus einen Schalen-Rohling formen und das Sonderbau-Team von SORG einen Prototyp des Rollstuhls mit den getauschten 

Rädern entwerfen und bauen. Entwickelt wurde ein Schalen-Untergestell mit einer gedrehten Radgeometrie (Antriebsräder vorne) und einer generellen Sitzneigung von 7 Grad. Zusätzlich ist der Schalenadapter um 35 Grad nach hinten/unten kantelbar, damit Vincent in den Vorlesungen leichter auf die Tafel schauen kann. Konsequenterweise wurden dann auch alle Bremsen und Bedienhebel für die Kantelung in seiner Griffnähe montiert. Zusätzlich wurde unter der Schalen-Aufnahme noch ein Schubfach für seine Utensilien (Bücher, Hefte, Laptop etc.) eingebaut, das nach vorne ausziehbar ist und dessen Deckel als Schreibunterlage dienen kann. Hätte man sich mit einer  ausreichenden Versorgung begnügt, hätten sich alle Beteiligten (inkl. Vincent) nicht auf das Wagnis Sonderbau eingelassen. Und sein großes Vorbild Stephen Hawking hätte recht behalten: „Wenn keiner den ersten Schritt wagt, bleibt der Griff nach den Sternen reine Utopie.“ Mittlerweile fährt Vincent seinen Bauchliege-Rollstuhl eigenständig und studiert bereits im 2. Semester.

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