Drei starke Brüder mit Muskelschwäche

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Martin Loevenich

 „Fly me to the moon“ ist einer der Lieblingssongs von Martin Loevenich. Wie maßgeschneidert passt der Text des Frank Sinatra-Hits aus den sechziger Jahren zur Lebenseinstellung des jungen Mannes, der sich von einer erblich bedingten Muskelerkrankung nicht in seinen Aktivitäten ausbremsen lässt.

Martin Loevenich, Sohn des Kantors an der St. Anna-Kirche im nordrhein-westfälischen Düren, hat wie seine beiden älteren Brüder Johannes und Gregor die seltene Duchenne Muskeldystrophie, die umgangssprachlich als Muskelschwund bezeichnet wird. Aufgrund eines fehlenden Proteins ist die Neubildung von Muskelzelleiweiß unterdrückt, das zusammen mit anderen Enzymen für den Erhalt der Muskelzellen von entscheidender Bedeutung ist.

Als den Eltern auffiel, dass die kleinen Söhne in der Zeit des Laufenlernens häufig hinfielen und sich in der motorischen Entwicklung Verzögerungen zeigten, ließen sie eine Muskelbiopsie durchführen.

Die Diagnose war ein Schock für die Familie, die dennoch allmählich in die Situation hineinwuchs und so normal wie möglich mit der fortschreitenden Krankheit der Söhne umging. Die Jungen besuchten eine Regelschule, nahmen an Klassenfahrten teil, absolvierten Praktika, begannen eine Ausbildung und gingen in ihrer Freizeit mit ihren Freunden ins Kino. Es wurde gekocht und gefeiert, bei Karnevalsfeiern trug Gregor Loevenich zum allseitigen Amüsement Büttenreden vor.

Getroffen aber nicht zerbrochen

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Das Buch des verstorbenen Bruders Gregor

„Das hat mich geprägt“, berichtet der jüngste Spross Martin der siebenköpfigen Familie, zu der auch noch zwei ältere Schwestern gehören. Mit seiner feingliedrigen Statur und dem jungenhaften Gesicht sieht Martin deutlich jünger aus als 23. Dass sein Bruder Gregor, der sein Schicksal so couragiert in die Hand nahm, vor knapp anderthalb Jahren starb, hat ihn schwer getroffen. Zerbrochen ist Martin an Gregors Tod aber nicht – der Ältere ist ihm vielmehr in vielen Dingen ein Vorbild geworden. Er hat ihm gezeigt, wie man trotz zahlreicher krankheitsbedingter Einschränkungen ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben führen kann.

Gregor hat nicht nur ein Forum zum Austausch mit anderen Betroffenen eröffnet, er hat auch ein Buch geschrieben („Mein Leben ist wertvoll“, Verlag Mainz, 64 Seiten, € 9,59), in dem er bemerkenswert sachlich seinen Umgang mit der Krankheit beschreibt und seinen Leidensgenossen Tipps wie diesen gibt: „Immer positiv denken und eine gute Einstellung zum Leben haben. Man muss kreativ sein, Ideen finden, und die Dinge mit Humor nehmen. Man darf niemals aufgeben, und man sollte alles, auch Kleinigkeiten, die noch gehen, selber und alleine machen. Wenn man beispielsweise häufig mit der Hand schreibt, wird das auch noch lange funktionieren.“

Gregors hilfreiche Informationen haben es verdient, in die Öffentlichkeit getragen zu werden, wie der jüngere Bruder findet. Deshalb bemüht er sich um Auftritte, bei denen er aus dem Buch vorliest – als Hommage an Gregor, der so fest in sich und seinem Glauben ruhte und der nun über den Tod hinaus seine Botschaft in die Welt tragen kann.

Singen stärkt Lunge und Seele

Martin Loevenich, der im Rollstuhl sitzt, seit er 16 war, hat viel von dem großen Bruder gelernt. „Geh´ jeden Tag aufs Neue an die eigenen Grenzen und beschäftige Dich nicht zu sehr mit dem eigenen Körper“, ist einer der Ratschläge, die er beherzigt hat. Schon zu Gregors Lebzeiten hatte er angefangen, Gesangsunterricht zu nehmen. „Wenn der Vater Kirchenmusiker ist, kommt man ja automatisch mit Musik in Berührung“, berichtet er. Im Jugendchor fiel seine schöne Bassstimme auf, immer mal wieder übernahm er kleinere Soli. Da wurde sein Ehrgeiz geweckt, und er fragte die Stimmbildnerin des Chores, ob sie ihn nicht unterrichten könne.

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Die Kölner Gesangspädagogin Daniela Bosenius studiert mit Martin Loevenich Opernarien und Musicalsongs ein. Durch den regelmäßigen Gesangsunterricht haben sich die Atemwerte von Martin Loevenich deutlich verbessert.

Daniela Bosenius war anfangs skeptisch, ob er dafür genug Kraft würde aufbringen können. „Aber dann ging es immer besser“, erzählt die temperamentvolle Sopranistin, die ihrem Schüler jedes Mal einiges abverlangt. Trotz der erkennbaren Anstrengungen würde Martin Loevenich den wöchentlichen Gesangsunterricht um nichts in der Welt ausfallen lassen. „Die halbe Stunde ist mir heilig“, schmunzelt er. „Singen ist gut für die Lunge; meine Atemwerte und die Artikulation haben sich deutlich verbessert“, stellt er zufrieden fest. Und nicht nur das: Martin hat durch die Auftritte merklich an Selbstbewusstsein gewonnen. Dass er sich getraut hat, eine Rolle in einem Musical zu übernehmen und vor über hundert Zuschauern zu singen, macht ihn stolz. Als er bei der Hochzeit der Schwester sang, war das für die ganze Familie ein bewegender Moment.

Keine Sonderbehandlung

Daniela Bosenius beweist als erfahrene Gesangspädagogin viel Einfühlungsvermögen im Umgang mit ihrem Schüler, denkt aber gar nicht daran, ihm eine Sonderbehandlung angedeihen zu lassen. „Das einzig Wichtige ist, dass er sich wohlfühlt“, sagt die burschikose Sängerin. „Zunge an die Zähne und ausatmen“, lautet das Kommando, nachdem Martin die einleitenden Stimmübungen absolviert hat. Und dann darf er seine Stimme strömen lassen: bei der Arie des Sarastro „O Isis und Osiris“ aus Mozarts Zauberflöte, bei Liedern der Kölner Band „Cat Ballou“ oder bekannten Musicalsongs wie „Somewhere over the rainbow“. „Da ist nichts geknödelt“, stellt Daniela Bosenius anerkennend fest, „ich benutze Martin manchmal als Vorbild für andere Schüler.“

Vom Willen und Durchhaltevermögen ihres begabten Schülers ist sie stets ebenso begeistert wie von seiner schönen Stimme. „Ich werde ihm mal wieder was Klassisches aufs Auge drücken“, hat sie sich vorgenommen. Bosenius fördert ihren Schützling nach Kräften. Ihre Idee war es auch, die Lesungen mit Gesangseinlagen zu verknüpfen, um die Attraktivität zu erhöhen. „Nach der Stunde fühle ich mich immer viel besser; die Anstrengung tut mir gut“, erzählt Martin Loevenich, der auch sonst viele Hürden in seinem Leben erfolgreich überwunden hat.

Die Brüder-WG

Dank einer 24-Stunden-Betreuung kann er zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Johannes in einer eigenen Wohnung leben. Zusätzliche Unterstützung leistet eine Haushaltshilfe, die vier Stunden am Tag kommt. Das garantiert den beiden jungen Männern größtmögliche Eigenständigkeit und Selbstverantwortung. Johannes hat einen Job am Empfang eines Seniorenheimes; Martin studiert an der Fachhochschule in Köln den Bachelor-Studiengang „Soziale Arbeit“. „Ich möchte anderen Menschen helfen“, begründet er die Wahl des Studienfachs. Viermal die Woche bewältigt er die Zugfahrt ohne Hilfe; beim Mittagessen in der Uni werden er und zwei weitere Rollstuhlfahrer aus seinem Semester von einem Pflegedienst unterstützt.

Er hat sich daran gewöhnt, dass er mit seinem Elektrorollstuhl Aufsehen erregt. „Ich werde oft angeguckt und angesprochen“, erzählt er. Immer wieder stellt er fest, wie unsicher Menschen im Umgang mit Behinderten sind. „Redet mit uns und schaut uns nicht blöd an. Wir wollen keine Isolation, sondern Integration“, hat schon sein Bruder Gregor seine Mitmenschen wissen lassen. Martin geht offensiv mit seiner Erkrankung um. Nie käme es ihm in den Sinn, die Öffentlichkeit zu meiden.

Er verpasst selten ein Spiel des 1. FC Köln, seines Lieblingsclubs, und begibt sich im Karneval gern mitten ins Getümmel. Die Reaktionen sind überwiegend positiv. „Die meisten finden es toll, dass ich trotz der Behinderung Spaß habe.“

„Wir wollen auf keinen Fall nur zu Hause rumsitzen“, sagt er voller Überzeugung. Deshalb unternehmen die Brüder und ihre Pfleger gelegentlich auch kleinere Reisen wie zuletzt nach Hamburg. Dass Martin bei einer ersten Erkundung aus dem Rollstuhl fiel und sich das Schienbein brach, weil ein unachtsamer Passant ihn zu Fall brachte, konnte ihm die Freude an derartigen Ausflügen im Alltag nicht verleiden.

Alle Sterne vom Himmel

Martin Loevenich lebt mitten im Hier und Jetzt und hat viele Zukunftspläne. Das Studium will er abschließen und im Beruf Fuß fassen. Vor allem möchte er noch einiges von der Welt sehen – am liebsten mit einer Freundin an seiner Seite. Sein Bruder Gregor hatte mit einer Fortsetzung des Buches begonnen, das Martin nun in seinem Sinne fortführen wird. Dass seine Vorhaben vom Fortschreiten der lebensverkürzenden Krankheit durchkreuzt werden könnten, blendet er weitgehend aus.

Wie heißt es doch in „Fly me to the moon“? „Let me play among the stars, let me see what spring is like on jupiter and mars (lass mich zwischen den Sternen spielen, lass mich sehen, wie der Frühling ist auf dem Jupiter und dem Mars).“ Das Unmögliche möglich zu machen, Grenzen zu überwinden und dem Leben abzutrotzen, was machbar ist, das beschäftigt Martin Loevenich viel mehr als der Gedanke an ein Ende.

Hanna Styrie    

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