Im Rollstuhl an die Côte d’Azur

Die Côte d’Azur kultiviert ihren Ruf als eine der attraktivsten Urlaubsregionen Europas. Zu Recht? Und gilt das auch für Rollstuhlfahrer? Ich hab’s ausprobiert und kann die Frage mit einem klaren Jein beantworten.

Das Verhältnis der Deutschen zu ihren französischen Nachbarn darf man getrost als „speziell“ bezeichnen. Im vergangenen Jahrhundert verbrachte man geraume Zeit damit, sich gegenseitig zu massakrieren. Nach den Schrecken zweier Kriege verbindet die Bewohner beider Länder heute eine Freundschaft, die maßgeblich das Gesicht Europas bestimmt. Freunde müssen nicht immer einer Meinung sein, und Verschiedenheiten können sich sehr belebend auf eine Beziehung auswirken. Wer das am eigenen Leib erfahren will, dem sei empfohlen, unser Nachbarland zu bereisen. Ich selbst tue das seit mehr als vier Jahrzehnten in mehr oder minder regelmäßigen Abständen und bin bekennend frankophil.

Mondän, charmant, idyllisch - St. Tropez hat viele Gesichter.
Mondän, charmant, idyllisch – St. Tropez hat viele Gesichter.

Das erste eigene Auto, das erste selbstverdiente Geld, der erste Urlaub – ich musste vor nun bald vierzig Jahren nicht lange überlegen, wohin die Reise gehen sollte. Sie führte mich an die französische Mittelmeerküste und begründete eine Liebe, die bis heute keinen Rost angesetzt hat. Mit mal längeren, mal kürzeren Pausen war ich seither immer wieder in dieser Gegend unterwegs, die in meinen Augen zum Schönsten zählt, was Europa an (Urlaubs)regionen zu bieten hat. Eine Premiere war meine diesjährige Reise ins Hinterland des mondänen Küstenortes St. Tropez dennoch, denn ich reiste zum ersten Mal als Rollstuhlfahrer an die Côte d’Azur.

Im Mai hatte ein Freund uns aus seinem Urlaub Fotos von einer lauschigen Ferienwohnung in Cogolin, einem Nachbarort von St. Tropez, geschickt. Ich befand die Wohnung auf den Bildern für hinlänglich rollstuhltauglich, die Buchung war rasch erledigt: zwei Wochen im September mit der Hoffnung auf Sommerverlängerung und Nachsaisonruhe in einer Gegend, die zur Zeit der französischen Sommerferien im Juli und August gnadenlos überlaufen und rummelig ist. Die Rechnung ging auf. Die Wohnung entsprach voll und ganz unseren Erwartungen, und geniales Spätsommerwetter sollte uns nach drei wolkig-trüben Tagen zu Beginn unseres Aufenthaltes für den Rest der Zeit begleiten.

Ein Landstrich von eigenem Charme

Betrachtet man die Mittelmeerküste auf einer Strecke von einhundert Kilometern west- und ostwärts von St. Tropez, so springen die Namen vieler prominenter Küstenorte ins Auge. Auf der einen Seite Cassis, Bandol, Toulon und die Iles d’Hyères, auf der anderen Seite Fréjus, Cannes, Antibes, Juan-les-Pins und Nizza. Dazwischen finden sich viele weitere, oft ruhigere Küstenorte. Das bergige Hinterland ist geprägt von zahlreichen pittoresken Städtchen und Dörfern, die typische Vegetation des Südens – Weinfelder, Korkeichen- und Kastanienwälder, Olivenhaine, Palmen und Feigenbäume – allgegenwärtig. Im Licht der Morgen- und Abendsonne strahlt das Land in einer warmen Farbenvielfalt, die jeden Betrachter verstehen lässt, wieso gerade diese Region das bevorzugte Reise- und Aufenthaltsziel zahlreicher berühmter Maler, unter ihnen Renoir, Picasso und Chagall, war und auch heute noch ist.

Entschleunigtes Idyll: Die Orte im Hinterland
Entschleunigtes Idyll: Die Orte im Hinterland

Zuweilen nur von wenigen Straßenzügen getrennt, bieten die Orte der Region viele Welten auf engem Raum. Mondäne Partymeilen und Society-Treffpunkte sind ein-, zwei Straßenzüge von romantischen Altstadtgassen und verträumten Plätzen entfernt. Die Yachthäfen laden zum Bummeln und Staunen ein. Zu jedem Ort gehört ein von Platanen beschatteter Platz, auf dem die Einheimischen ihrer Leidenschaft für das Pétanque-Spiel nachgehen. Ihnen mit einem kühlen Glas Rosé in der Hand im ebenfalls obligatorischen Café am Platz dabei zuzuschauen, hat eine optimal entschleunigende Wirkung. Schlägt man den Weg ins Hinterland ein, führen enge, gewundene Straßen zu Orten, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Häufig reicht der Blick von dort bis zum tiefblauen Meer, auf dem Motor- und Segelyachten ihre Spuren ziehen. Es ist schwer, sich vom Charme dieser Welt nicht einnehmen zu lassen.

Warum es „Leben wie Gott in Frankreich“ heißt…

Was die kulinarische Qualität der Region angeht, so wird sie ihrem guten Ruf gerecht. Die Côte d’Azur zeichnet sich durch eine hohe Dichte von besternten Restaurants aus. Wer mag, kann also beträchtliche Summen in eine – dann in aller Regel auch hervorragende – Verköstigung investieren. Doch auch Normalverdiener müssen keineswegs darben. Die in allen Orten stattfindenden Wochenmärkte (Verzeichnisse mit den Marktterminen und -orten sind in jeder Touristeninformation erhältlich) bieten eine hervorragende Auswahl an regionalen Lebensmitteln zu absolut erschwinglichen Preisen, und auch normale französische Supermärkte sind in der Regel deutlich besser sortiert als ihre deutschen Pendants – für Selbstversorger mit Ferienwohnung und Küche eine unmissverständliche Einladung zum Schlemmen. Natürlich kommen besonders Liebhaber von Fisch und Meeresfrüchten auf ihre Kosten. Frühaufsteher können in den Häfen vieler Orte ihr Abendessen fangfrisch direkt bei den Fischern erstehen. Auch das dazu passende Getränk – die Côte d’Azur wird vor allem für ihre Roséweine gelobt – ersteht man am besten gleich beim Erzeuger. Die zahlreichen Weingüter verfügen ausnahmslos über Verkostungs- und Einkaufsmöglichkeiten. Aber auch wer sich lieber verwöhnen lassen möchte, muss kein Vermögen ausgeben. Es lohnt sich, einen Blick auf Restaurants abseits der dichtesten Touristenströme zu werfen. Das Preis-Leistungsverhältnis ist häufig in auf den ersten Blick unscheinbaren Häusern ganz ausgezeichnet. Essen hat in Frankreich einen höheren Stellenwert als in Deutschland – ein ausgesprochen sympathischer Wesenszug unserer Nachbarn, finde ich.

Zuweilen stößt man als Rollstuhlfahrer an seine Grenzen.
Zuweilen stößt man als Rollstuhlfahrer an seine Grenzen.

Mit Geduld und Taktik klappt‘s

Und wie halten es diese Nachbarn mit ihren mobilitätseingeschränkten Mitbürgern und Besuchern? Im Großen und Ganzen ist die Situation nicht besser und nicht schlechter als bei uns. Am Anfang war ich von der beträchtlichen Anzahl an Behindertenparkplätzen sehr angetan. Die durch einen flächig blauen Anstrich deutlich kenntlich gemachten Parkflächen finden sich (das war mindestens mein subjektiver Eindruck) häufiger als bei uns. Da die auch in der Nachsaison noch reichlich belebten Urlaubsorte durchweg Parkplatznotstandsgebiete sind, empfand ich das zunächst einmal als Vorteil. Allein – mit ihren Behindertenparkplätzen halten es die Franzosen ähnlich wie mit der Geschwindigkeitsbeschränkung auf ihren Autobahnen und den Überholverboten auf ihren Landstraßen, will sagen, die Missbrauchsquote ist abenteuerlich, auch wenn für unberechtigte Nutzung, darauf weisen Schilder unmissverständlich hin, eine „Gebühr“ von 135 Euro fällig ist. Unabhängig davon scheinen in Frankreich andere Spielregeln für die Vergabe der blauen Ausweise zu gelten, denn dem Mehr an Parkplätzen steht augenscheinlich auch ein Mehr an Ausweisinhabern gegenüber. Letztlich fand sich für das Parkplatzproblem mit etwas Geduld aber überall eine Lösung.

Nachholbedarf haben unsere Nachbarn noch in Sachen abgesenkte Bordsteine, die selbst an Zebrastreifen nicht zwingend üblich sind, und was die Verbreitung des Euro-WC-Schlosses an öffentlichen Toiletten angeht. Anders als in vielen deutschen Städten findet sich ein solches an den automatischen öffentlichen Toiletten nicht, so dass die jeweilige Gebühr auch für Rollstuhlnutzer fällig ist. Im Übrigen hilft der Schlüssel auch auf den Autobahnraststätten, anders als bei uns, nicht weiter. Was die Toilettenangelegenheit insgesamt betrifft, fand sich meistens mal mehr, mal minder problemlos eine Lösung. In Restaurants freilich so häufig (oder besser so selten) wie auch in Deutschland.

Steile Gassen, grobes Pflaster? Der Trick: Oben anfangen und einfach laufen lassen.
Steile Gassen, grobes Pflaster? Der Trick: Oben anfangen und einfach laufen lassen.

Strand- und Hafenpromenaden sind für Rollstuhlfahrer eine feine Sache. Das Meer ist halt von Natur aus flach, die säumenden Wege also auch. Wir fanden sogar eine ganze Anzahl von „Handiplages“ – Stränden mit rollstuhltauglichem Zugang und leihweise verfügbaren, meerwasserresistenten Ballonreifengefährten. Wo immer wir der Küste den Rücken zuwandten, wurde es beschwerlich. Es liegt auf der Hand, dass die Erkundung von Bergdörfern für einen Rollstuhlnutzer eine schweißtreibende Angelegenheit ist. Zur Topographie gesellt sich noch, wie überall auf der Welt, wo’s wirklich idyllisch ist, ungnädiges Pflaster hinzu. Deshalb so sehenswerte Orte wie Grimaud, Gassin oder St. Paul de Vence auszusparen, kam uns dennoch nicht in den Sinn. Unsere Taktik: Wir mäanderten uns hinauf zum jeweils höchsten erreichbaren Parkplatz, nahmen die verbleibenden Höhenmeter mit gemeinsamen Kräften unter die Räder, und ab da ging‘s im Sightseeingmodus gemütlich und kräfteschonend bergab.

Bliebe noch die Sache mit der Sprache. So ziemlich überall auf der Welt kommt man mit ein wenig Englisch ganz gut über die Runden, und theoretisch gilt das auch für Frankreich. Aber die Grande Nation pflegt einen eigentümlichen Sprachstolz. Freiwillig gibt kaum jemand seine Fremdsprachenkenntnisse preis. Umso dankbarer wird zur Kenntnis genommen, wenn der Gast die Landessprache bemüht. Urlauber mit Französischkenntnissen haben deshalb in vielen alltäglichen Situationen einen Bonus. Das mag man finden wie man will – es ist einfach so.

Ein Tipp für Genießer

Ist ein Urlaub an der Côte d’Azur aus Rollstuhlfahrerperspektive nun empfehlenswert? Ich meine ja, will aber nicht verhehlen, dass das ein ziemlich subjektives Urteil ist. Hohe Verkehrsdichte und zuweilen etwas abenteuerlich agierende Verkehrsteilnehmer, eine manchmal bizarre Preisgestaltung (St. Tropez-Aufschlag in den hippen Hafencafés) und steile, grobgepflasterte Gassen hier und da konnten mir die Urlaubslaune nicht verderben. Was die spezifischen Belange von mobilitätseingeschränkten Reisenden betrifft, ist die Region so gut erschlossen wie heimische Urlaubsreviere. Das Preisniveau entspricht – von Ausreißern abgesehen – im Großen und Ganzen dem deutscher Urlaubsgebiete. Der Glamourfaktor ist hoch. Tiefblaues Meer und palmenbeschattete Strandboulevards mit Blick auf noble Yachten – das hat ein eigenes Flair. Hinzu kommt das liebliche Hinterland in Verbindung mit seinem Reichtum an kulinarisch reizvollen Produkten – die Côte d’Azur ist ganz klar ein Tipp für Genießer.

wp

Dieser Artikel erschien im RehaTreff (04/2015).
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