Lübecks lebendige Geschichte erkunden

In Lübeck hinterließen die Kaufleute der Hanse ebenso ihre Spuren wie die literarische Kaufmannsfamilie „Buddenbrooks“ von Nobelpreisträger Thomas Mann. Das Wandeln auf seinen Wegen ist für Rollstuhlfahrer eine Herausforderung, die mit spannenden Eindrücken in das von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärten Städtchen belohnt wird.

Wie im Legoland fühlen wir uns beim Anblick des dickbauchigen, schiefen Holstentores, das jeder Deutsche ab dem Taschengeld-Alter von der Zwei-Euro-Münze kennen dürfte. Was wir heute so niedlich finden und jährlich Millionen Touristen in die schleswig-holsteinische Hansestadt Lübeck lockt, sollte im Mittelalter der Abschreckung dienen. Denn im Westen hatte Dänenkönig Christian Begehrlichkeiten für die prosperierende Handelsmetropole entwickelt und dem sollte die Architektur des Tores unmissverständlich die Botschaft der Kaufleute vermitteln: „Wir gehören zur Hanse, wir sind frei und mächtig!“ Zur Seite neigte sich das Gebäude nicht durch einen Angriff, sondern wegen des morastigen Bodens schon während der Bauzeit 1464 bis 1478.

Über die Macht des Handels gibt es hinter den dicken Tormauern, die ein Museum beherbergen, etwas zu erfahren. Das ist allerdings nicht barrierefrei. Macht aber nichts, denn eine wahre Informationsflut rund um das mittelalterliche Handelsbündnis wartet im neuen Europäischen Hansemuseum am anderen Ende der Stadt am Burgtor. Dorthin begeben wir uns nun auf mittelalterlichen Wegen über die Altstadtinsel, die 1987 als erster kompletter Altstadtkern von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt wurde.

Der Weg ist mühsam. Zum Kopfsteinpflaster kommen Steigungen, die wir im platten Norden nicht erwartet hätten. Löblicherweise haben die örtlichen Tourismus-Fachleute einen barrierefreien Stadtrundgang auf asphaltierten Flächen erarbeitet, der sich im Internet herunterladen lässt. Es lohnt sich aber, hin und wieder vom Weg abzuweichen. Am besten direkt hinter dem Holstentor nach Überquerung des Flusses Trave, der die Altstadt umfließt und zu einer Insel macht. Gegenüber der Pastorenbrücke geht es durch einen unscheinbaren Durchgang in der Depenau mitten hinein ins pralle mittelalterliche Leben. Unvermittelt finden wir uns in einem Gang mit dicht aneinander gedrängten Häuschen, klein wie Puppenhäuser, wieder.

An den Fassaden wachsen Rosen, Tische und Bänke laden  zum Entspannen ein. Auch für diese Gänge ist der erfolgreiche Handel der „Königin der Hanse“ verantwortlich: Als immer mehr Menschen nach Lübeck strömten, wurden die Hinterhöfe mit kleinen Buden dicht bebaut. Alle Gänge, die nicht verschlossen sind, sind öffentlich zugänglich. Da viele Durchgänge so schmal sind, dass gerade eine Person hindurch passt, sind sie für Rollstuhlfahrer oft nicht passierbar. Hier im Hinterhof der Depenau druckte in den 1930er Jahren ein junger Mann namens Herbert Frahm Flugblätter gegen die Nazis. Bald musste er nach Skandinavien fliehen, von wo er nach dem Krieg als Willy Brandt zurückkehrte. Dem Sohn der Stadt und späteren Bundeskanzler ist in der Königstraße das Willy-Brandt-Haus gewidmet. Für Besucher im Rolli wird nach Anmeldung der barrierefreie Zugang mit einer Treppenraupe ermöglicht.

Wer ganz genau wissen möchte, wie im Mittelalter gehandelt wurde und wie sich die Hanse organisierte, ist wie gesagt im neuen Europäischen Hansemuseum am Burgtor genau richtig. Am ehemaligen Standort eines Dominikaner-Klosters erhebt sich der moderne Museumsbau, dessen Außenfassade aus Backstein wie eine Stadtmauer im typisch lübschen gebrannten Ziegel anmutet. Der Neubau wurde barrierefrei inklusive taktilem Leitsystem geplant. Die schweren Kabinetttüren können jedoch nicht von jedem Besucher im Rollstuhl selbstständig geöffnet werden.  Von der Dachterrasse mit spektakulärem Blick über den Hafen geht es mit dem Lift hinunter ins Mittelalter. Düster ist es hier unten. Eine Kogge scheint in die per Video animierte Ostsee zu segeln, und angesichts der kostbaren Ladung auf dem offenen Kahn lässt sich schnell nachvollziehen, warum die Kaufleute sich mit ihren schwedischen Kollegen auf der Insel Gotland zusammentaten und im schützenden Verbund Richtung Nowogorod segelten.

Schon die Kinder tranken Bier

An den zahlreichen interaktiven Stationen erfahren wir auch, dass im Mittelalter aufgrund des mit Keimen belasteten Wassers schon Kinder Bier tranken und dass die Kaufleute der Hanse nicht unerheblich an Kreuzzügen zur Christianisierung der Slawen und Balten zwecks besserer Geschäftsbedingungen beteiligt waren. In der originalgetreu nachgebildeten Brügger Kaufhalle kann man Ritterrüstungen, handgewebte Stoffe, Schwerter, Gewürze und andere Handelsgüter befühlen. Schade nur, dass es auch hier so düster ist. Denn das Mittelalter, so erzählen Lübecks Archäologen bei Ausgrabungen immer wieder, war gar nicht dunkel, sondern bunt, lebensfroh und erotisch.

Nächste Station für uns: das Heiligen-Geist-Hospital, eines der ältesten Hospitäler Europas. Vor mehr als 700 Jahren wurde dieses von Stiftern gegründet. Die Vorhalle, die im Dezember einen berühmten kunsthandwerklichen Weihnachtsmarkt beherbergt, ist mit bunten gotischen Fresken geschmückt und für Rollstuhlfahrer zugänglich. Die sich anschließende lange Halle mit den Kabäuschen, in denen die Alten und Armen der Hansestadt lebten, ist über eine Stufe zu erreichen.

Zeit für eine Pause nehmen wir uns nicht weit vom Heiligen-Geist-Hospital im Marilistro Museumscafé. In den hellen Räumen mit viel Kunst an den Wänden servieren Menschen mit und ohne Behinderung köstliche Speisen und frisch gebackenen ­Kuchen. Das Marilistro ist barrierefrei und verfügt auch über ein Behinderten-WC. So gestärkt, sind wir bereit für einen Zeitsprung und gehen im Buddenbrook-Haus der berühmten literarischen Lübecker Kaufmannsfamilie von Thomas Mann auf die Spur. Neben vielen Fakten über die fiktive Familie gibt es auf allen per Lift erreichbaren Etagen auch viel Wissenswertes über die reale Welt des Autors und seiner nicht minder künstlerisch begabten Kinder. Das prächtige Bürgerhaus in der Mengstraße 4 aus dem Jahr 1758, das heute das Museum beherbergt, war einst das Wohn- und Handelshaus von Thomas Manns Großeltern und das Vorbild für das Domizil im Roman „Die Buddenbrooks“.

Wir wandeln weiter von der Mengstraße aus durch den Arkadengang zum Markt mit dem prächtigen Rathaus, das ab 1230 entstand. Stufenlos geht es in den Audienzsaal. In dem ehemaligen Gerichtssaal geben zwei verschieden hohe Türen Rätsel auf. Durch die hohe Tür durften erhobenen Hauptes Freigesprochene den Saal verlassen, die niedrige Tür zwang Verurteilte zum gebückten Gang.

Süße Versuchung

Direkt gegenüber dem Rathaus machen wir eine weitere geschichtsträchtige Entdeckung, die ebenso zu Lübecks Weltruhm beiträgt wie das Holstentor: In der Manufaktur von Georg Niederegger trat 1806 das Marzipan seinen süßen Siegeszug an. Im Café Niederegger, das für einen barrierefreien Zugang seine Seitentür in der Hüxstraße öffnet, kann man sich die Geschichte der köstlichen Mandelmasse im wahrsten Sinne des Wortes auf der Zunge zergehen lassen. In Gedanken reisen wir nach Persien, wo Mandeln und Zucker im 9. Jahrhundert als Heilmittel vermengt wurden, bis einige Jahrhunderte später Koggen die wertvollen Zutaten zu den Lübecker Zuckerbäckern brachten und den Händlern der Hansestadt zu Reichtum verhalfen.

Reiseplanung

Infos zum barrierefreien Lübeck-Besuch gibt es im barrierefreien Welcome-Center der Lübeck und Travemünde Marketing GmbH am Holstenplatz 1 sowie unter www.luebeck-tourismus.de/erkunden/luebeck-barrierefrei.html und unter Telefon 04 51/88 99 700.
Die historische Altstadtinsel lässt sich auf kurzen Wegen erkunden. Außerdem sorgen die absenkbaren, mit Rampen ausgestatteten Busse des öffentlichen Nahverkehrs für Mobilität, auch ein Rollstuhltaxi kann angefordert werden. Reisende im Rollstuhl erreichen den barrierefreien Hauptbahnhof mit der Deutschen Bahn. Barrierefreie Zimmer in Altstadtnähe bieten unter ­anderen das Radisson Blu Senator Hotel (www.senatorhotel.de) und das Park Inn Hotel (www.parkinn.de/hotel-luebeck) sowie auf der Altstadtinsel das Atlantic Hotel Lübeck (www.atlantichotels.de/hotel-luebeck/).

Neben dem Marilistro Museumscafé in der Königstraße ist das benachbarte, elegante Restaurant Die Zimberei zu empfehlen, das in einem Kaufmannshaus aus dem 13. Jahrhundert residiert.
Telefon 04 51/73 81 2. Einen schönen Ausblick auf die Trave und Drehbrücke genießt man im Restaurant Nord im Europäischen Hansemuseum. Reservierung auf www.hansemuseum.eu und ­Telefon 04 51/80 90 990. Weitere Hinweise zum barrierefreien ­Besuch gibt auch der Behindertenwegweiser auf: www.behindertenwegweiser-luebeck.de
Fotos: Museumshafen@TorstenKrüger, Miriam Flüß/André Byszio, Frank Vincentz

Miriam Flüß

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