Der rollende Schiri aus Regensburg

Schiedsrichter Frank Reinel sitzt in seinem Rollstuhl und zeigt die gelbe Karte
Schiedsrichter Frank Reinel sitzt in seinem Rollstuhl und zeigt die gelbe Karte

Frank Reinel (30 Jahre) war schon immer fußballbegeistert. An die WM 1986 in Mexiko erinnert er sich noch genau. Als damals Fünfjähriger durfte er, je nach Übertragungszeit, wenigstens die erste Hälfte der Deutschlandspiele im Fernsehen anschauen. Er träumte davon, selbst eines Tages auf einem Fußballplatz zu stehen. Aber als Spieler war es ihm aufgrund einer Behinderung nicht möglich. Er kam mit Arthrogryposis multiplex congenita(AMC) auf die Welt, einer Erkrankung, die durch mehr oder weniger stark ausgeprägte Gelenkversteifungen mit Muskelatrophien gekennzeichnet ist. Weil bei ihm nahezu alle Gelenke betroffen sind, sitzt Frank Reinel im Rollstuhl. Seine Einschränkung sieht er als Herausforderung.

Ein Schiri im Rollstuhl?

„Die Begeisterung für den Fußball ließ mich nicht mehr los“, erzählt Frank Reinel. „Als ich in der fünften Klasse des Gymnasiums im mittelfränkischen Roth war,meinten die Lehrer eines Tages, dass ich doch die Spiele im Sportunterricht leiten könnte. Das war die Idee! Und weil ich die Begegnungen ohne größere Probleme im Griff hatte, wurde daraus schnell mehr. Ich pfiff fortan bei allen möglichen Veranstaltungen, von Hockey über Basketball und Handball bis hin zum traditionellen Fußball-Abschlussturnier der Abiturienten gegen eine Lehrerauswahl. Das war mein Ding.“ Am liebsten war Frank Reinel Fußball-Schiedsrichter. Während des Studiums pfiff er Fakultätsturniere, Studentenmeisterschaften etc. „Aber ich wollte noch mehr, ein ‚richtiger’ Schiedsrichter werden.“

Legitimation durch Lehrgang

Frank Reinel wollte sich absichern und meldete sich zu einem Schiedsrichterlehrgang an. 2008 legte er die Prüfung erfolgreich ab. Heute ist er einer von rund 80.000 offiziellen Schiedsrichtern des Deutschen Fußballbundes (DFB) und pfeift Spiele des Bayrischen Fußball-Verbandes (BFV). Sein erstes Spiel als offizieller Referee ist ihm noch ganz präsent: ein Spiel der D-Jugend in Regensburg. Nervös sei er nicht gewesen, sondern habe richtig darauf hingefiebert, erzählt er. Das war auch ein Novum für die Fußballwelt, denn es war das erste offizielle Spiel, das von einem Schiedsrichter im Rollstuhl geleitet wurde. Noch immer ist Frank Reinel nach Angaben des DFB deutschlandweit der einzige Fußballschiedsrichter auf vier Rädern – vermutlich sogar weltweit, wie Internetrecherchen vermuten lassen. Inzwischen hat sich Frank Reinel über die C-, B- und A-Jugend sowie den Seniorenbereich in die A-Klasse „hochgepfiffen“.

Keine Nachteile auf dem Platz

Neben einem technischen Defekt ist schlechtes Wetter das einzige Problem für Frank Reinel. „Bei starkem Dauerregen wird es schwierig für mich“, sagt er. „Wenn der Boden matschig ist, haften die Räder schlecht, was das Bremsen erschwert. Zum Glück ist mir das bisher nur ein einziges Mal passiert. Da bin ich dann auf die Tartanbahn ausgewichen und habe von dort aus das Spiel geleitet. Ansonsten ist mein Rollstuhl mit seinem Eigengewicht von knapp 100 Kilo und meinem Gewicht sehr stabil.“ „Sind Sie denn mit dem Rollstuhl Ihren Fußgänger-Kollegen in Sachen Geschwindigkeit nicht unterlegen?“, möchte ich wissen. „Mit meinem vorherigen Rollstuhl war es vielleicht hin und wieder mal der Fall; der fuhr nämlich nur sechs Stundenkilometer“, erklärt Frank Reinel. „Die optimale Laufgeschwindigkeit der Kollegen liegt zwischen sechs und zehn Stundenkilometern: In dieser Spanne, so hat man ermittelt, leidet die geistige Frische, die für die Spielleitung erforderlich ist, nicht unter der körperlichen Anstrengung. Seit einem Dreivierteljahr habe ich nun einen stärker motorisierten Rollstuhl mit zwölf km/h. Und wenn ich mit dem quer über den Platz pflüge, um die empfohlenen Laufwege einzuhalten, habe ich kein Geschwindigkeitsdefizit. Im Übrigen ist das Ganze ja auch eine Erfahrungssache. Ich pfeife jetzt seit 18 Jahren, habe gelernt, schnelle Kurven zu fahren, besitze eine gute Spielübersicht und antizipiere die Spielsituationen schnell, so dass ich wirklich auf Ballhöhe bin.“

Dass das Sportgelände und die Umkleidekabine barrierefrei sind, muss selbstverständlich sein und wird schon bei den Spielansetzungen, die Frank Reinel pfeift, berücksichtigt. „Aber was passiert, wenn der Akku des Rollstuhls mitten im Spiel seinen Geist aufgibt?“, frage ich. Der Ladezyklus reiche schon für eine Spieldauer von 90 Minuten, erfahre ich. Aber sicher sei sicher. Daher werde der Akku in der Halbzeit immer aufgeladen. Und sollte wirklich einmal ein Defekt auftreten, so werde dies wie eine Verletzung des Schiedsrichters im Spiel bewertet: Das Spiel werde dann abgebrochen und neu angesetzt.

Etwaige Bedenken schnell ausgeräumt

Von Frank Reinel habe ich zufällig gehört. Vorstellen konnte ich mir einen Unparteiischen im Rollstuhl bis dahin nicht. Und Spielern, die ihn noch nicht erlebt haben, ging und geht es sicherlich ebenso. Meine Frage nach möglichen Akzeptanzproblemen verneint er. „Jedenfalls sind mir noch keine nennenswerten Beschwerden zu Ohren gekommen. Auch nicht bei den Jugendlichen. Ich habe mich ihnen vorgestellt, und sie haben mich akzeptiert. Wenn das Spiel erst einmal läuft, wird meine etwas andere Situation sowieso ausgeblendet. Die Spieler sind voll auf ihr Spiel konzentriert – zumindest solange ich korrekt pfeife. Und wie es scheint, mache ich das ganz ordentlich“, schmunzelt der 30-Jährige. „Nach dem Spiel gibt es dann häufig nette Unterhaltungen, auch Anerkennung. Ebenso von den Trainern, die meine Leistung schätzen.“

Paralympics ade

Bis vor kurzem hat Frank Reinel wettkampfmäßig Leistungsschwimmen betrieben. Und das sehr erfolgreich. Er wurde mehrmals Deutscher Meister, hält in seiner Spezialdisziplin 200-Meter-Rückenschwimmen in seiner Klasse noch immer den deutschen Rekord und nahm sogar an einem europäischen Wettbewerb teil. Eigentlich wollte er sich für die diesjährigen Paralympics in London qualifizieren und hatte dadurch, dass er in seinem Verein mit der mehrfachen Europa- und Weltmeisterin sowie mehrfachen Paralympics-Siegerin Anke Conradi trainiert, beste Bedingungen. Aber dieses Ziel hat er schweren Herzens aufgegeben, weil ihm die Zeit für die dafür erforderliche Erhöhung der Trainingsfrequenz fehlte. „Der Beruf geht vor“, sagt er. „Neben meiner Tätigkeit in der Personalabteilung der Universität Regensburg betreibe ich nebenbei zu Hause noch meine Kanzlei als Rechtsanwalt, um mir meine Zulassung zu erhalten für den Fall, dass mein befristeter Vertrag nicht verlängert wird. Außerdem spare ich auf diese Weise noch ein wenig für das ersehnte Auto und vielleicht auch für eine weitere motortechnische Aufrüstung meines Rollstuhls an. Aber ich trainiere nach wie vor zweimal pro Woche.“

Traum vom eigenen Auto

Zu den Spielen fährt Frank Reinel meist mit öffentlichen Verkehrsmitteln; die Bushaltestelle ist zwei Minuten von seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in der Regensburger Altstadt entfernt. Nur wenn er mehrmals umsteigen muss, leistet er sich einen Transport, den er aus eigener Tasche zahlen muss. Fürs Pfeifen gibt es nur eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 15 bis 20 Euro und eine Erstattung der Fahrtkosten entsprechend der Spesenordnung des DFB. „Ein Auto, das auf meine Bedürfnisse ausgerichtet ist, kann ich mir derzeit einfach nicht leisten“, sagt der Regensburger. „Die Umrüstung allein würde rund 15.000 Euro kosten. Leider lehnt die Bundesagentur für Arbeit die Anschaffung eines Autos für die Fahrt von zu Hause zur Arbeitstelle ab, weil ich dort nur eine befristete Stelle als Personaljurist habe. Ein Fahrdienst, so heißt es, wäre günstiger. Aber ein eigenes Auto wäre für viele Dinge des täglichen Lebens schon eine ganz große Erleichterung.“

Man muss das Unmögliche versuchen…

Frank Reinel wäre nicht Frank Reinel, wenn er nicht noch einen weiteren Schiedsrichter-Traum hätte. „Ich bin mit Leib und Seele Schiedsrichter“, schwärmt er, „und möchte mich weiter verbessern, gerne noch zwei oder drei Klassen aufsteigen. In die Kreisklasse oder vielleicht in die Kreisliga. Dann könnte ich nämlich zusammen mit Schiedsrichterassistenten im Team agieren. Ja, das wäre mein sportlicher Traum! Ich möchte mir keine Grenzen setzen und weiterhin neugierig auf die Welt sein. Mein Lebensmotto, das mir immer geholfen hat, stammt von Herrmann Hesse und lautet: Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“

Ruth M. Nitz

 

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