Liegerad für Menschen mit Mobilitätsbehinderung

Die hessische Liegeradmanufaktur HP Velotechnik hat mit dem Scorpion plus 26 seit Januar 2015 ein komfortables Liegetrike mit E-Antrieb im Programm. Zunächst als Rad für jedermann konzipiert, hat sich das Trike auch in der Reha-Branche schnell einen Namen gemacht. Denn es ist eine attraktive Lösung für Menschen, die nicht mehr die volle Muskelkraft in den Beinen oder den erforderlichen Gleichgewichtsinn haben, um ein gewöhnliches Fahrrad zu bewegen. Ob das unkonventionelle Gefährt auch einen eingefleischten Radler überzeugen kann?

Scorpion26Plus

Ich muss zugeben, vor diesem Test war ich skeptisch. Fahrräder mit Elektromotor waren für mich bisweilen ein rotes Tuch. Als begeisterter Radfahrer liebe ich das Gefühl, einen Berg mit eigener Muskelkraft bezwungen zu haben, auf meinem Fahrrad spule ich an guten Tagen schon mal 100 Kilometer oder mehr ab. Dabei bin ich in der glücklichen Situation, trotz Gehbehinderung weitestgehend normal Radeln zu können. Liegeräder habe ich im Straßenverkehr durchaus registriert, mich aber nicht eingehender damit beschäftigt. Das sollte sich mit diesem Praxistest nun ändern.

Startklar in wenigen Minuten

Nach wenigen Handgriffen ist das Liegetrike abfahrbereit. Foto: AWS/Rosdorff
Nach wenigen Handgriffen ist das Liegetrike abfahrbereit. Foto: AWS/Rosdorff

Mit dem Scorpion plus 26 im Kofferraum, mache ich mich auf in die malerische Gegend zwischen Karlsruhe und Baden-Baden. Mit einer kompakten Größe von 81 × 91 × 99 Zentimetern schmiegt sich das zusammengefaltete Liegetrike auch in kleine Laderäume, vorausgesetzt die Rückbank lässt sich umklappen. Will man weder Rücken noch Ladekante ramponieren, ist beim Ausladen aber die Hilfe einer zweiten Person empfehlenswert. Dank gründlicher Einweisung, verhelfe ich dem Scorpion mit nur wenigen Handgriffen zu seiner endgültigen Größe. Dazu falte ich das Rad auseinander und sichere den selbstständig arretierenden Klappmechanismus mit einem Schnellspanner. Nachdem ich den Sitz aufgesteckt, den Lenker in Position gebracht und den Akku angeschlossen habe, kann es auch schon losgehen. Die Pedale lassen sich ebenfalls per Schnellverschluss auf die richtige Beinlänge einstellen. Das Rad kann so von Fahrern mit einer Körpergröße von 1,49 bis 2,00 Metern genutzt werden.

Per Knopfdruck am Lenker wird der verbaute Hinterradantrieb des Herstellers GO SwissDrive zum Leben erweckt. Ein Farbdisplay informiert über Geschwindigkeit, Reichweite und zurückgelegte Kilometer. Zudem können umfassende Tourdaten gespeichert und per Bluetooth oder USB-Stick ausgelesen werden. Der Elektromotor bietet in fünf frei wählbaren Stufen Unterstützung bis 25 km/h. Beim Bremsen wird der Akku per Rekuperation (Rückgewinnung) wieder aufgeladen. HP Velotechnik verspricht 130 Kilometer Reichweite bei 60 Prozent Tretunterstützung, mit einem optionalen zweiten Akku kann die Reichweite verdoppelt werden.

GoSwissDrive
Der am Hinterrad verbaute Nabenmotor liefert ordentlich Schub. Foto: AWS/Rosdorff

Hohe Sitzposition bringt Sicherheit

Nun aber genug der technischen Details. Das Scorpion will schließlich gefahren werden. Das Aufsteigen von vorne gestaltet sich dank des breiten Rahmens einfach. Fußspitzen und Fersen werden per Riemen auf dem Pedal fixiert. Beim ersten Tritt in die Pedale nimmt augenblicklich der Elektromotor geräuschlos, sanft und ruckelfrei seinen Dienst auf. Um das doch relativ schwere Gefährt in Gang zu bringen, ist dank der Anfahrhilfe kaum Kraftaufwand nötig. Was direkt nach den ersten Metern auffällt, ist die hohe Sitzposition. Mit 57 Zentimetern Sitzhöhe komme ich mir im Straßenverkehr nicht ganz verloren vor, muss also nicht permanent Angst haben, von anderen Verkehrsteilnehmern übersehen zu werden. Wer es sportlicher haben möchte, kann einen flacheren Sitz montieren.

Mit maximaler Unterstützung des Elektromotors sind in der Ebene laut Tacho mühelos 25 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit möglich. Will man schneller fahren und das Trike über die Unterstützung des Motors hinaus mit den eigenen Muskeln antreiben, wird man abrupt an das Gewicht des Rads erinnert und muss gegen einen starken Widerstand antreten.

Geschaltet wird mit dem Zeigefinger über Hebel an den Lenkerenden. Foto: AWS Rosdorff
Geschaltet wird mit dem Zeigefinger über Hebel an den Lenkerenden. Foto: AWS Rosdorff

Manchmal wird’s eng

Mühelos dirigiere ich das Trike über den Radweg. Bodenwellen und kleine Schlaglöcher steckt die vollgefederte Konstruktion leicht weg. Meine Hände liegen auf weich gepolsterten Ablagen, die Schaltung betätige ich per Zeigefinger über Hebel, die an beiden Lenkerenden angebracht sind. Auf bequemere Art und Weise bin ich wohl noch nie Rad gefahren. Dank des Elektroantriebes, lässt sich das Scorpion herrlich schaltfaul bewegen. Auch in schnellen Kurven beweist das Rad dank des breiten Radstands eine hohe Kippstabilität. Dieser bringt jedoch nicht nur Vorteile mit sich. Die Breite des Trikes darf nicht unterschätzt werden, auf engen Fahrradwegen kann der Platz bei Gegenverkehr schon mal problematisch werden. Zur Not muss auf die Straße ausgewichen werden. Autofahrer begegneten meinem ungewöhnlichen Gefährt dabei aber stets freundlich und zuvorkommend.

Rasante Bergabfahrten

Aus dem Rheintal führt mich mein Weg auf die ersten Hügel des Nordschwarzwaldes. Immerhin stattliche 350 Meter Höhenunterschied. Statt der flacheren Straße wähle ich nun steile asphaltierte Waldwege. Ohne nennenswerte körperliche Anstrengung dirigiere ich das Trike noch so imposant anmutende Steigungen hinauf, von meinem Zweirad wäre ich hier vermutlich abgestiegen. Einen Preis muss ich für diese Kletterei aber bezahlen, was ein kurzer Blick auf das Display deutlich macht. Die Akku-Reichweite ist nun deutlich abgesunken. Um nicht mit leerem Akku liegen zu bleiben, entscheide ich mich zur Umkehr.

Bergab lasse ich das Trike rollen, auch jenseits von 45 km/h kommt bei mir dank der guten Fahrstabilität keine Unsicherheit auf. Beim Bremsen ist dann aber Vorsicht geboten. Verzögere ich einseitig, zieht das Rad stark in eine Richtung, paralleles und vorsichtiges Ziehen beider Bremshebel ist ein Muss. Wieder im Rheintal angekommen, hat sich die Reichweite dank Rekuperation bereits um 15 Kilometer erhöht. Mit dem Plan, bei solchen Bergtouren künftig besser einen zweiten Akku mitzunehmen, mache ich mich auf den Heimweg.

Individuelle Ausstattung

Das Fahren mit dem Liegetrike ist wirklich ein Erlebnis. Ich persönlich werde mich aber weiterhin auf zwei Rädern bewegen, ohne Elektroantrieb. Wer sollte sich das Scorpion plus 26 also näher anschauen? All diejenigen, die aufgrund von Behinderung oder Krankheit ein gewöhnliches Rad nicht mehr fahren können, sei es aufgrund fehlenden Gleichgewichts, Muskelschwäche, Amputationen oder sonstigen Mobilitätseinschränkungen. Interessant ist das Trike auch für Globetrotter, die mit viel Gepäck die Welt bereisen. Die Heckträger sind mit bis zu 50 Kilogramm belastbar, sogar Touren mit zusätzlichem Anhänger sind möglich.

Für Menschen mit Mobilitätsbehinderung bietet HP Velotechnik ein breites Angebot an Hilfsmitteln für das in Deutschland handgefertigte Scorpion an. So kann jedes Rad individuell an die Bedürfnisse des Fahrers angepasst werden. Erhältlich sind unter anderem: Aufstehhilfen, Handauflagen, Pedale mit Fuß- und Unterschenkelfixierung sowie Gehhilfenhalter. Sogar die Bedienung mit nur einer Hand ist nach einem Umbau möglich.

Fahrspaß pur

Zum Abschluss des Tests durfte ich bei HP Velotechnik in Kiftl noch die Gelände-Variante mit der Bezeichnung Scorpion fs 26 Enduro ausprobieren. Mit grobstolligen Reifen knapp über dem Boden mit hohem Tempo durch unwegsames Gelände fegen – da könnte ich schwach werden.

Das Scorpion Plus 26 ist mit E-Antrieb ab 5.380 Euro erhältlich (3.890 Euro ohne Motor)

Weitere Infos finden sich im Internet unter: www.hpvelotechnik.com

ES

Das hat gefallen/Das hat weniger gefallen:

+ Standsicher und Kippstabil

+ Hohe Fertigungsqualität

+ Handgefertigt in Deutschland

+ Entspannte Sitzposition

+ Umfangreiches Zubehör

+ Rückwärtsgang

– Konstuktionsbedingt hohes Gewicht und große Ausmaße

– Am Berg lässt die Reichweite schnell nach, ein zweiter Akku ist bei längeren Touren notwendig

– Recht hoher Preis

 

 Technische Daten:

Sitzhöhe max. 57cm
Bodenfreiheit 15,5 cm (statisch eingefedert)
Radgröße 20″ (ISO 406) vorne,
26″ (ISO 559) hinten
Radstand 120 cm
Spurweite 86 cm
Breite 91 cm
Länge 186–218 cm
Wendekreis 5,35 m
außen–außen
Gewicht ab 19,5 kg mit Pedale
Faltmaß 81 × 91 × 99 cm
Zuladung max. 150 kg
Rahmenmaterial Aluminium
 
FahrerIn-Größe min. ca. 1,49 m
max. ca. 2,00 m
Garantie auf den Rahmen 10 Jahre

 

 

Dieser Artikel erschien im RehaTreff (02/2015).
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