Sir Ludwig Guttmann revolutionierte die Behandlung von Querschnittgelähmten – und initiierte die Paralympics
Es gibt Geschehnisse, die prägen einen Menschen und bestimmen seinen künftigen Lebensweg. Als der 18 Jahre alte Ludwig Guttmann 1917 in einer Bergwerksklinik im damaligen Schlesien als freiwilliger Krankenhelfer arbeitete, wurde auf seiner Station ein Bergmann eingeliefert. Er war nach einem Grubenunfall querschnittgelähmt. „Da brauchst Du Dich nicht groß drum zu kümmern“, sagte ihm ein Pfleger, „der stirbt in ein paar Wochen.“ Und in der Tat. Fünf Wochen später war der gelähmte Kumpel verstorben, an einer Harnwegsentzündung und am Wundfieber.
Das Erlebnis in der Klinik habe, wie er später erzählte, seinen Berufswunsch wesentlich beeinflusst. Aber noch ein anderes Ereignis brannte sich in sein Gedächtnis ein: Während des Studiums wurden Guttmann und seine jüdischen Kommilitonen mit einem zu dieser Zeit nicht untypischen, auch gewalttätigen studentischen Antisemitismus konfrontiert. Daraus zog der angehende Mediziner mentale und körperliche Stärke. „Niemand braucht sich zu schämen, Jude zu sein“, sagte er sich und stellte sich der Auseinandersetzung, durch Kampfsport und Krafttraining körperlich vorbereitet. Nicht ducken, hinnehmen und wegschauen, sondern hinschauen, zupacken und kämpfen.
Sport bei der Rehabilitation
Kaum zehn Jahre nach diesen beiden Ereignissen war aus dem jungen freiwilligen Helfer ein namhafter Neurologe an einer Klinik in der schlesischen Bergbauregion geworden und aus dem sportlichen Studiosi drei Jahrzehnte später der Begründer nicht nur des Behindertensports, sondern der Gründervater der sogenannten Paralympics. „Wenn ich etwas Gutes in meiner medizinischen Laufbahn getan habe, dann war es das, dass ich den Sport zur Rehabilitation von behinderten Menschen genutzt habe“, sagte Guttmann, der nicht gerade groß gewachsen, aber von kräftiger Statur war, später in einer Rückschau auf sein Lebenswerk.
Ludwig Guttmann wurde am 3. Juli 1899 im oberschlesischen Tost, dem heutigen polnischen Toszek geboren. Er wuchs in einem orthodox jüdischen Elternhaus auf, in dem gegenseitige Hilfe und Wohltätigkeit eine religiöse, aber vor allem auch menschliche Verpflichtung waren. Deshalb engagierte er sich auch schon früh sozial und arbeitete als freiwilliger Krankenpfleger in einem Bergwerkshospital.
Die Verhältnisse konnten trostloser nicht sein. Bergunfälle waren an der Tagesordnung und oft konnten die Untertagearbeiter nach einer Verschüttung nur mit Lähmungen der Extremitäten geborgen werden. Die Überlebensperspektive war damals nicht nur aufgrund des apparatemedizinischen Standes nicht groß. Nierenversagen, Harnwegsentzündungen, das „Durchliegen“ der bewegungslos in den Betten ruhenden Patienten und deren psychisches „Versinken“ aufgrund der vermeintlichen Hoffnungslosigkeit, all dies lernte Guttmann schon vor seinem Studium kennen.
Ausreise aus Deutschland und Neubeginn in Oxford
Nachdem er 1924 sein Studium der Medizin als Neurologe in Freiburg beendet hatte, arbeitete er in einer Hamburger Klinik. 1929 wechselte er dann als Chefarzt an das Wenzel-Hanke-Krankenhaus in Breslau, wo er bis 1933 tätig war. Weil die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme ein Berufsverbot für jüdische Ärzte verfügten und diese nur noch „jüdische Patienten“ behandeln durften, wechselte der Neurochirurg und Präsident der jüdischen Medizinervereinigung, der von seinen Freunden „Poppa“ gerufen wurde, ans Jüdische Krankenhaus in Breslau. Schon damals war sein Name in Fachkreisen bei der Behandlung von Verletzten mit Lähmungserscheinungen so groß, dass Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop ihn – den Juden – im staatlichen Auftrag 1938 nach Lissabon schickte, um einen Freund des damaligen Diktators Salazar zu behandeln.
Seine Rückreise nutzte Guttmann, um in London Kontakt mit der „Society for the Protection of Science and Learning“ aufzunehmen, die jüdischen Ärzten die Ausreise aus dem Deutschen Reich ermöglichte. Gerade richtig, denn mit der „Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ von 25. Juli 1938 wurde die Approbation aller jüdischen Ärztinnen und Ärzte mit dem 30. September für „erloschen“ erklärt. Am 14. März 1939 konnte Ludwig Guttmann dann „ohne einen Pfennig“, wie sich seine Tochter Eva erinnert, gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern Deutschland verlassen. Mithilfe der Schutzgemeinschaft fand er eine Anstellung als Neurologe in Oxford. Mit seiner Kritik an der Behandlung von Paraplegikern und Tetraplegikern in England machte er schnell auf sich aufmerksam.
Ende 1943 wurde Guttmann befragt, ob er bereit sei, eine Klinik für Querschnittgelähmte zu eröffnen, deren Zahl durch die kriegerische Auseinandersetzung zur Befreiung Deutschlands von der Nazidiktatur täglich anstieg. Er willige ein, jedoch mit einer Vorbedingung. Er forderte, dass „er die Behandlung in seiner Form durchführen dürfe.“ Die britische Regierung akzeptierte, und am 1. Februar 1944 wurde das National Spinal Injuries Centre, das Nationale Zentrum für Wirbelsäulenverletzungen im Stoke Mandeville Hospital eröffnet.
Neue Ideen und Therapien
Das Krankenzentrum in Aylesbury, der Hauptstadt der südenglischen Grafschaft Buckinghamshire, verfügte über 26 Betten und einen Patienten. In den Jahren danach waren „Poppa“ und seine ärztlichen Kollegen, darunter sehr viele jüdische Migranten aus Deutschland, im Stoke Mandeville Krankenhaus fast ausschließlich mit der Behandlung querschnittverletzter britischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges beschäftigt.
„Als ich zum ersten Mal nach Stoke kam, galten die Patienten mit Rückenmarksverletzungen als hoffnungslose Krüppel. Ich akzeptierte diese defätistische Haltung nicht. Meine Philosophie war, dass diese Komplikationen nicht nur kontrolliert, sondern auch ganz vermieden werden können“, erinnerte sich Guttmann. Er riss im wahrsten Sinne die mobilen Raumteiler ein, hinter denen die Bewegungsunfähigen mehr oder minder sich selbst überlassen waren. Er gab den eingelieferten Patienten wieder Lebensmut im Rahmen ihrer schweren Verletzung, denn es gab noch ein anderes Problem innerhalb des Rehaprozesses: „Schwer gelähmte Patienten verlieren das Selbstvertrauen, ihre geistige Aktivität und ihre Würde, sie kapseln sich ab und werden unsozial.“
Mit neuen Ideen und Therapien rückte er den körperlichen Beeinträchtigungen sowie den körperlichen und seelischen Nebenwirkungen der Querschnittlähmung zu Leibe. Guttmann wollte, dass die Paralytiker so schnell wie möglich wieder ein ganz normales Leben führen konnten. Teamwork war dabei seine Devise. Nicht Ärzte, Therapeuten und Krankenschwestern „machten ihren Job am Patienten“, sondern gemeinsam arbeiteten sie „mit dem Patienten“. „Poppa hat die Aufteilung in Krankenpfleger und Physiotherapeuten aufgehoben und hat sie zu einem Team gemacht“, beschrieb später einer der Physiotherapeuten der ersten Stunde die Leistung Guttmanns.
Die ersten „Stoke Mandeville Games“
Vor allem auf körperliche Aktivitäten legte Guttmann während des Therapieaufenthalts seiner Patienten Wert. Muskelaufbautraining für Rollstuhlsitzer sollte nicht nur die körperliche Situation des Behandelten verbessern, sondern auch seinen psychischen Zustand. Dart, Bogenschießen, Snooker und Tischtennis wurden so adaptiert, dass sie als Teil der Reha-Therapie eingesetzt werden konnten. „Wir waren so beschäftigt an diesem verfluchten Ort“, beschreibt ein ehemaliger Patient seinen Aufenthalt, „dass wir keine Zeit hatten, krank zu sein.“
Als Klinikleiter in England entwickelte Ludwig Guttmann bis heute gültige Behandlungsmethoden für Querschnittgelähmte und verbesserte deren Rehabilitation auch durch sportliche Förderung. Dabei achtete er nicht nur auf die positive körperliche Wirkung der sportlichen Betätigung während des Heilungsprozesses eines Gelähmten, sondern auch auf die psychische Mobilisierung mit dem Ziel Folgeerkrankungen zu vermeiden, beziehungsweise zu begrenzen und Hilfestellung bei der Bewältigung des Alltags zu geben.
Am 28. Juli 1948 fanden in Aylesbury die ersten „Stoke Mandeville Games“ im speziell adaptierten „Behindertensport“ statt. An diesem Tag begannen in London die XIV. Olympischen Sommerspiele. 14 im Rollstuhl sitzende Männer und zwei Frauen, ehemalige Soldatinnen und Soldaten der britischen Armee, beteiligten sich an diesem ersten sportlichen Wettstreit. Mit Absicht hatte Guttmann das Datum ausgesucht, um den „Behindertensport“ bekannt zu machen.
Seit 1960 Paralympics
1960 trafen sich in Rom bereits 400 gelähmte Sportlerinnen und Sportler aus 23 Nationen, um sich offiziell im Anschluss an die Olympischen Spiele bei den sogenannten Paralympics zu messen. Seit dem spricht seltener jemand von den „Stoke Mandeville Games“, den „Weltspielen der Gelähmten“ oder der „Olympiade der Behinderten“, die der zum britischen Ritter geschlagene Sir Ludwig Guttmann ins Leben gerufen hatte. „Das Ziel ist es, gelähmte Männer und Frauen aus allen Teilen der Welt in einer internationalen Sportbewegung zu vereinen und durch den Geist wahrer Sportlichkeit Tausenden von gelähmten Menschen Hoffnung und Inspiration zu geben.“
Die Behandlungsmethode Guttmanns, nach dem in Deutschland inzwischen zwei Straßen, eine Schule und Sportzentren benannt sind, lernte auch der Unternehmer Manfred Sauer kennen. Ein verunglückter Kopfsprung in die Themse machte den jungen Deutschen bei einem Studienaufenthalt in England zum Tetraplegiker. „Ich bin, glaube ich, der einzige Deutsche, der seine Erstrehabilitation im Stoke-Mandeville-Hospital erhalten hat. Das war für mich 1963 Glück im Unglück“, betont Sauer.
„Wenn die Strenge Methode hatte, dann war es ein wohlüberlegtes Mittel, mit Autorität effizient eine Lebensumstellung einzupauken“, urteilte Sauer im Rückblick auf Guttmann bei der Einweihung der Ludwig-Guttmann-Halle in Heidelberg im vergangenen Oktober. „Stoke war, so wie ich es erlebt habe, eine gute Diktatur. Das Diktat der Notwendigkeit aus fundiertem Wissen, Verantwortungsbewusstsein und Überzeugung.“
„Das Leben im Rollstuhl ist Kampf“, sagt Sauer. Und diesen Kampf habe Sir Ludwig Guttmann, der am 18. März 1980 an den Folgen eines Herzinfarktes starb, mit militärischem Reglement begleitet.