Nach der Veröffentlichung des Referentenentwurfs für das Bundesteilhabegesetz durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales am 26. April fällt das erste Resümee nach der Durchsicht des 369 Seiten umfassenden Referentenentwurfs für Dr. Sigrid Arnade vom NETZWERK ARTIKEL 3 äußerst ernüchternd aus.
- Mit diesem Entwurf ist es nicht gelungen, das im Koalitionsvertrag formulierte Ziel – die Herausführung behinderter Menschen aus dem Fürsorgesystem und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht – zu erreichen. Es hat kein Systemwechsel stattgefunden. Das Sozialhilfedenken ist nach wie vor maßgebend. Die Bestimmungen der bisherigen Eingliederungshilfe sind weitgehend kopiert und ins SGB IX eingefügt worden. Nach wie vor müssen die Betroffenen die behinderungsbedingt notwendigen Hilfen aus ihrem eigenen Einkommen und Vermögen zahlen, solange sie es können. Eine Herauslösung aus dem Fürsorgesystem hätte bedeutet, dass die Hilfen als Nachteilsausgleiche ohne Eigenbeteiligung erbracht werden oder maximal übergangsweise ein geringer Festbetrag einbehalten wird. Die Vermögensgrenzen sind zwar angehoben worden, aber bei der Einkommensanrechnung wird es zu Verschiebungen, aber kaum zu spürbaren Entlastungen kommen. Die vorgesehenen Bestimmungen stehen im Gegensatz zu den Festlegungen in der UN-Behindertenrechtskonvention und zu den Empfehlungen, die der UN-Fachausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen nach der Staatenprüfung Deutschlands vor einem Jahr formuliert hat.
- Gar nicht hinnehmbar ist die massive Einschränkung des leistungsberechtigten Personenkreises in § 99 des Referentenentwurfs: Demnach sind nur Menschen leistungsberechtigt, die in fünf (von neun) Lebensbereichen ohne Unterstützung nicht teilhaben können oder in drei Lebensbereichen auch mit Unterstützung nicht teilhaben können. Das bedeutet, dass nicht nach dem tatsächlichen Bedarf geschaut wird, sondern nach bürokratischen Kriterien. Ein blinder Student beispielsweise, der „nur“ Unterstützung bei der Kommunikation braucht, fiele raus.
- Ein wichtiges Anliegen behinderter Menschen, das Menschenrecht auf freie Wahl von Wohnort und Wohnform (Art. 19 UN-BRK), ist nicht realisiert worden. Vielmehr ist diesbezüglich alles beim Alten geblieben. Immerhin konnten die Verschlechterungen, die sich im Arbeitsentwurf vom Dezember 2015 abzeichneten, verhindert werden.
- Beim Budget für Arbeit in § 61 des Referentenentwurfs, dessen Einführung im Prinzip zu begrüßen ist, werden in Absatz 2 den Ländern Abweichungsmöglichkeiten eingeräumt, was bundeseinheitlichen Regelungen zuwider läuft. Das ist zu kritisieren.
- Die Einführung einer unabhängigen Beratung nach § 32 des Referentenentwurfs entspricht einer Forderung der Behindertenverbände. Die Ausgestaltung bleibt vage und soll in einer Förderrichtlinie konkretisiert werden. Zu kritisieren ist, dass die Förderung durch den Bund bis Ende 2022 befristet ist.
- Die Leistungsform der Assistenz, die für ein selbstbestimmtes Leben unabdingbar und auch in der UN-Behindertenrechtskonvention normiert ist, hat zwar in § 78 des Referentenentwurfs Eingang gefunden, ist aber überhaupt nicht verstanden bzw. mit falschen Inhalten gefüllt und dadurch ziemlich entstellt worden.
- Die Bestimmungen zum Leistungsort nach § 31 des Referentenentwurfs verhindern weiterhin, dass behinderte Menschen in der Entwicklungszusammenarbeit tätig werden können, weil Leistungen höchstens noch im grenznahen Ausland erbracht werden. Derzeit gibt es den Fall eines jungen gehörlosen Mannes, der einen Kindergarten für gehörlose Kinder in Pjöngjang aufbaut und dem mit dieser Bestimmung die Finanzierung von Arbeitsassistenz verweigert wird.
- Es gibt auch Positives: Die Mitwirkungsrechte der Werkstatträte werden erweitert und Frauenbeauftragte werden in Werkstätten eingeführt.
„Resümee: sehr ernüchternd“, erklärte Dr. Sigrid Arnade in ihrer Ersteinschätzung des Referentenentwurfs.