„Die Grundrechte von Menschen mit Handicap sind in der Moderne durch ein falsches Verständnis von Freiheit und die transhumanistische Tendenz zur Perfektionierung des Lebens massiv unter Druck geraten!“ – Diese Einschätzung vertritt der Sozialberater des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland, Dennis Riehle, in einer aktuellen Stellungnahme: „Während wir vorgeben, gegenüber jedem Mitglied unserer Gesellschaft Respekt und Toleranz zu üben, tun wir uns mit körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen unserer Mitmenschen weiterhin sehr schwer. Das liegt nach meinem Dafürhalten auch am wachsenden Bestreben der Menschheit, uns zu idealisierten Wesen zu machen, die sich über Natürlichkeit und Schöpfung hinwegsetzen wollen, um das Ziel einer scheinbaren Vollkommenheit zu erreichen. Dabei schrecken wir auch nicht davor zurück, ethische Grenzen zu überwinden und moralische Dammbrüche zu begehen“, erklärt der 37-Jährige. „Ob es nun der progressive Ansatz westlicher Zivilgemeinschaften nach einer weiteren Liberalisierung des Abtreibungsrechts ist, der sogar den Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt hin erlauben möchte. Oder der Fortschritt in der pränatalen Diagnostik, welcher uns ermöglicht, nur noch Designer-Babys die Niederkunft auf diese Welt zu gestatten. Die medizinischen und technologischen Sprünge, welche Behinderung und Krankheit durch Ersatzteile und aufwändige Therapien gänzlich ausbügeln möchten. Oder die Absicht, das Ende des Daseins durch eine vollständige Öffnung der Sterbehilfe umfassend kontrollieren zu wollen. All diese Beispiele machen deutlich, wonach wir im Gegensatz zu früheren Generationen kaum noch leidensfähig sind. Doch ein Mensch ohne Makel, Fehler oder Lasten wird es langfristig verlernen, mit persönlichen und globalen Krisen umzugehen. Dass wir uns bemühen, das Leben künstlich zu beschneiden und evolutionäre Gegebenheiten zu verändern versuchen, offenbart eindrücklich: Uns fehlt die Gelassenheit, Ecken und Kanten zu akzeptieren und als Chance zu nutzen.“ Der ABiD-Sozialberater sagt aus eigener Erfahrung: „Zwar wird man heute als Mensch mit einer Behinderung dem ersten Anschein nach stärker in gesellschaftliche und politische Prozesse eingebunden und seltener schräg beäugt als in der Vergangenheit. Gleichzeitig nimmt man oft den Unterton des Mitgefühls wahr. Dabei haben wir das als vollwertige Teile unseres demokratischen Miteinanders überhaupt nicht nötig. Allerdings spiegelt diese Wahrnehmung auch den Beweggrund für die Ansinnen wider, Behinderung und Krankheit perspektivisch aus unserer Zivilisation verbannen zu wollen: Gerade Menschen ohne Behinderung glauben, ein Hiersein mit Beeinträchtigung wäre weniger lebenswert, anstrengend und müßig. In einer Atmosphäre von Spaß, Zügellosigkeit und Genuss wird ausgeblendet, dass eine Biografie neben den Höhen auch die Tiefen braucht, um in der Persönlichkeit wachsen zu können und Reifung zu erlangen. Wenn unser Besuch auf Erden nur dem Zweck von ,Fun‘ und Egomanie dienen soll, verkennen wir die Bedeutung jedweder Passion, deren Durchschreiten ein individueller Prozess des Erwachsenwerdens ist. Wer allerdings nie die heiße Herdplatte berührt hat, um Erkenntnis zu finden, wird ewig Kind bleiben und keine Selbstständigkeit erreichen. Und so dürften wir durch vermeintlichen Liberalismus, Fortschritt und Emanzipation in Wahrheit rückwärtsgehen und unsere Mündigkeit verlieren. Die ersten Anzeichen dieser Entwicklung sehen wir in den aktuellen Krisen: Uns mangelt es an Resilienz, Hürden zu meistern und mit Problemen adäquat umzugehen. Wir jammern auf hohem Niveau, weil wir es nicht mehr gewohnt sind, qualvolle Zeiten mit Widerstandskraft zu bewältigen. Menschen mit Behinderung meistern Epochen des Verzichts und der Entbehrung schon allein deshalb besser, weil ihnen Barrieren nicht fremd sind. Dass augenscheinlich Gesunde zunehmende Berührungsängste mit ihren gehandicapten Nächsten haben, unterstreicht sinnbildlich, dass alle Bemühungen um die Verdrängung des Leidens aus unserer Welt Hilflosigkeit offenbart. Statt Kinder mit einer möglichen Behinderung am Leben hindern zu wollen, weil wir uns anmaßen, zu beurteilen, was zumutbar ist oder nicht, obliegt uns die Verantwortung, Geschenktes in all seiner Pracht anzunehmen und es nicht auf eventuelle Abweichungen von der durch uns selbst formulierten Normalität zu reduzieren. Uns steht es ebenso nicht zu, Elend am Ende unserer Existenz vorzeitig zu beenden. Übergriffigkeit unter der Maßgabe, den Willen des Mitmenschen zu kennen, lässt Behinderung nicht obsolet werden. Sie beweist viel eher, dass Andersartigkeit ein Gewinn für die Humanität ist und trotz – und gerade wegen – ihrer Unhandlichkeit ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Pluralismus bleiben muss.“