Der Ministerrat hat am gestrigen Dienstag den vom baden-württembergischen Kultusminister Andreas Stoch vorgelegten Eckpunkten zur Inklusion zugestimmt und das Kultusministerium beauftragt, auf dieser Grundlage die Änderung des Schulgesetzes zum Schuljahr 2015/2016 vorzubereiten. „Mit den Eckpunkten schaffen wir einen Meilenstein auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungswesen in Baden-Württemberg. Wir wollen den Eltern die Wahl ermöglichen, ihr Kind an einer allgemeinen oder einer Sonderschule unterrichten zu lassen“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Es soll zur Normalität werden, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden. „Wir wollen an unseren Schulen eine Kultur des Miteinanders, nicht der Ausgrenzung. Die Inklusion wird hierfür ein wichtiger Gradmesser sein, den wir gemeinsam mit den Schülern, Eltern und Lehrern umsetzen. Wir werden die Schulen für diese Herausforderung gut vorbereiten“, betonte Kultusminister Andreas Stoch.
Qualifiziertes Wahlrecht für Eltern
Eltern von Kindern mit einem festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot können künftig nach einer qualifizierten Beratung selbst entscheiden, ob ihr Kind eine Sonderschule oder eine allgemeine Schule besuchen soll. „Damit stärken wir den Elternwunsch: Es muss selbstverständlich werden, dass ein Kind mit Behinderung an einer allgemeinen Schule unterrichtet wird. Und die Sonderschulen sollen weiterhin ihrer wichtigen Aufgabe nachkommen können“, unterstrich Stoch. Die bisherige Pflicht zum Besuch der Sonderschule soll aufgegeben werden und in die Pflicht zum Besuch der Grundschule und einer weiterführenden Schule aufgehen. Auch nach der Schulgesetzänderung wird es kein absolutes Elternwahlrecht für eine bestimmte Schule geben. Ausschlaggebend für die Entscheidung muss vor dem Hintergrund des Elternwunsches immer die Realisierbarkeit des inklusiven Bildungsangebotes sein. Sollte die Schulverwaltung dem Elternwunsch nicht in der von ihnen bevorzugten Weise folgen, muss dies jeweils begründet werden. Dies könnte der Fall sein, wenn die personellen und sachlichen Voraussetzungen für ein qualitätsvolles inklusives Angebot am gewünschten Standort nicht geschaffen werden können. Die Schulverwaltung muss ggf. gemeinsam mit den Eltern Alternativen für ein inklusives Bildungsangebot entwickeln.
Inklusion betrifft alle Schularten
Inklusion ist Aufgabe aller Schulen. Deswegen können in Zukunft an allen Schulen und Schularten inklusive Bildungsangebote eingerichtet werden, die in der Regel gruppenbezogen organisiert sind. Die beteiligten Schulen erhalten bei Bedarf sonderpädagogische Unterstützung. Falls notwendig, wird das so genannte Zwei-Pädagogen-Prinzip angestrebt. Dabei unterrichtet die Lehrkraft der allgemeinen Schule die Klasse gemeinsam mit einer Sonderpädagogin oder einem Sonderpädagogen. Kinder mit einem festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot sollen ihren Voraussetzungen entsprechend gefördert werden, unabhängig davon, ob sie das Ziel der von ihnen besuchten Schule erreichen können oder nicht (zieldifferenter Unterricht). Umgekehrt sollen sich die Sonderschulen auch für Kinder ohne Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot öffnen.
Kultusminister Stoch hat für das kommende Schuljahr 2014/2015 ein zusätzliches Einstellungskontingent im Umfang von 200 Deputaten bereitgestellt, die für inklusive Bildungsangebote an allgemeinen Schulen zur Verfügung stehen. „Inklusion wird unsere Schulen verändern. Wir werden die Lehrerinnen und Lehrer auf die Aufgabe vorbereiten und stark unterstützen“, betonte Stoch. So werden zum einen die Fortbildungsangebote zum Thema Inklusion deutlich ausgebaut. Zum anderen ist bei der Reform der Lehrerbildung vorgesehen, dass künftig alle Lehrer während ihres Studiums eine Grundausbildung zu Fragen der Inklusion erhalten. Mit dem Ausbau der inklusiven Bildungsangebote ist gleichzeitig ein Entwicklungsauftrag für die Sonderschulen verbunden. Die Schulart Sonderschule wird mit Blick auf die geplante Schulgesetzänderung ihre Beratungs- und Unterstützungsleistungen für alle Schularten ausbauen und weiterhin eigene Bildungsangebote vorhalten.
Bisherige Erkenntnisse aus der Praxis
Baden-Württemberg hat im Schuljahr 2010/2011 den Schulversuch „Schulische Bildung von jungen Menschen mit Behinderung“ eingerichtet, der bis zur Schulgesetzänderung weitergeführt wird. Wesentliche Erkenntnisse dieses Schulversuchs sind in die Eckpunkte für die Schulgesetznovelle eingeflossen.
In den fünf Schwerpunkregionen Staatliche Schulämter Stuttgart, Mannheim, Freiburg, Konstanz und Biberach haben sich rund 27 Prozent der Eltern von Kindern mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot für eine inklusive Beschulung an einer allgemeinen Schule entschieden.
Mit dem Schulversuch wurde der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern in ganz Baden-Württemberg deutlich ausgebaut.
Im laufenden Schuljahr 2013/2014 ist der Ausbau inklusiver Bildungsangebote weiter vorangeschritten: Laut amtlicher Schulstatistik besuchen
- rund 700 Schüler mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot eine Gemeinschaftsschule.
- rund 3.300 Schüler in der Organisationsform Außenklassen (insgesamt 650) eine allgemeine Schule.
- rund 20.300 junge Menschen mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Beratungs- und Unterstützungsangebot eine allgemeine Schule.
Zusätzlich lernen rund 1000 Schüler mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot in den Schwerpunktregionen in inklusiven Bildungsangeboten.
Eckpunkte der Schulgesetznovelle im Überblick
- Pflicht zum Besuch der Sonderschule aufheben
Der Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot wird vom Staatlichen Schulamt festgestellt. Ihm kann an unterschiedlichen Lernorten (Sonderschule/Allgemeine Schule) Rechnung getragen werden. Die Pflicht zum Besuch der Sonderschule soll aufgehen in der Pflicht zum Besuch einer Grundschule und einer darauf aufbauenden weiterführenden Schule.
- Wahlrecht der Eltern stärken
Die Eltern eines Kindes mit festgestelltem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot sollen sich zukünftig zwischen einer Sonderschule und einer allgemeinen Schule entscheiden können (der Wunsch soll für die Schulverwaltung handlungsleitend sein). Ein absolutes Elternwahlrecht wird nicht geschaffen.
- Aufnahme des zieldifferenten Unterrichts ins Schulgesetz
Gemeinsamer Unterricht soll für Schüler mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot auch dann in der Primarstufe und der Sekundarstufe I grundsätzlich an allen allgemeinen Schulen erfolgen, wenn diese Schüler die jeweiligen Bildungsziele dieser allgemeinen Schulen nicht erreichen können (zieldifferenter Unterricht). Für die Sekundarstufe II der beruflichen und der allgemein bildenden Schulen gelten die jeweiligen Aufnahmevoraussetzungen.
- Gruppenbezogene inklusive Bildungsangebote
Inklusive Bildungsangebote sollen im zieldifferenten Unterricht möglichst gruppenbezogen angelegt werden (zum einen ist diese Lösungsform ressourcenschonender, zum anderen zeigt die Erfahrung, dass die Interessen von Schülergruppen im Unterrichtsalltag eher Berücksichtigung finden als die Interessen und Bedürfnisse einzelner Schülerinnen und Schüler). Im begründeten Einzelfall ist auch die Möglichkeit gegeben, eine zieldifferente Einzelfalllösung einzurichten.
- Weiterentwicklung der Sonderschulen
Sonderschulen werden ihre Beratungs- und Unterstützungsleistungen ausbauen, inklusive Bildungsangebote an allgemeinen Schulen unterstützen (Beteiligung an der Entwicklung regionaler Angebotsstrukturen), eigene Bildungsangebote vorhalten und sich für Kinder ohne Behinderungen öffnen.
- Verortung der Lehrkräfte
Lehrkräfte der Sonderschulen sollen, wenn sie mit mehr als der Hälfte ihres Deputats an der allgemeinen Schule arbeiten, dorthin versetzt werden.
- Steuerungsfunktion der Schulverwaltung stärken
Die Staatlichen Schulämter steuern sowohl den Prozess der Schülerlenkung als auch des Lehrereinsatzes. Schülerinnen und Schüler mit einem festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot sollen bei der Klassenbildung der allgemeinen Schulen berücksichtigt werden.
- Aufbau eines Sonderpädagogischen Dienstes an beruflichen Schulen
Im Rahmen der Umsetzung der Handlungsempfehlung der Enquete-Kommission „Fit fürs Leben in der Wissensgesellschaft“ haben die beruflichen Schulen mit der Einrichtung eines Sonderpädagogischen Dienstes begonnen, der auch wichtige Aufgabenstellungen in Bezug auf inklusiven Unterricht übernimmt und damit einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung von Jugendlichen mit Behinderung auf dem Weg zu einer Ausbildung, Arbeit und Beschäftigung leistet.