Manche Ärzte betreiben als Hobby das Geschichtenschreiben, und einige davon werden dadurch berühmter als durch ihre ärztlichen Leistungen. So einer war der Neurologe Oliver Sacks, der in London geboren und ausgebildet wurde, dann zur Weiterbildung in die USA ging und dort bis zu seinem Tode im August 2015 lebte. Er interessierte sich vor allem für Absonderlichkeiten des menschlichen Gehirns, die zu ungewöhnlichen Charakteren führen. Die Eigenheiten solcher Patienten beschrieb er dann in allgemeinverständlichen Erzählungen, die ihm auf der ganzen Welt ein Millionenpublikum bescherten. Bei uns wurden seine Bücher alle bei Rowohlt verlegt, sie sind inzwischen auch als e-Books erhältlich.
Am bekanntesten wurde der Titel „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, eine Fallgeschichte über die sog. Seelenblindheit. Medizinisch bedeutender war Dr. Sacks‘ Entdeckung, dass viele Überlebende einer seltsamen, in den 1920er Jahren in den USA grassierenden Virusepidemie, die seither in mehreren Heilanstalten vor sich hindämmerten, mit dem Parkinson-Medikament L-Dopa „wiedererweckt“ werden konnten. Sein ausführlicher Bericht „Awakenings“ wurde 1990 mit den bekannten Schauspielern Robert de Niro (als Starpatient) und Robin Williams (als Dr. Sacks) verfilmt und brachte in den USA 52,1 Millionen $ ein. Auch die deutsche Fassung „Zeit des Erwachens“ war ein Riesenerfolg.
Den RehaTreff-Lesern möchte ich besonders ein Buch empfehlen, das bei uns 1989 unter dem Titel „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ erschien. Hier ist der 31-jährige Autor selbst der Patient: Er stürzt auf einer einsamen Bergwanderung, wobei ihm die Sehne am linken Knie komplett abreißt. Unter größten Schmerzen kriecht er ins Tal, wird gefunden und in ein Krankenhaus gebracht. Sacks beschreibt minutiös die Narkose, das Eingipsen des geflickten Beins und die wochenlange Heilperiode, in der sich sein Bein von ihm „entfremdet“. Jeder Patient, vor allem einer, der wegen eines Problems mit seinen Beinen länger liegen muss, kann die Zeit nutzen, sich an den ausführlichen Erlebnissen und Gefühlen eines professionellen Leidensgenossen zu ergötzen.
Oliver Sacks erfuhr etwa zwei Jahre vor seinem Tod, dass er an Krebs erkrankt sei, hatte also Zeit, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Sein Motto dabei war: „Ich habe den Tod vor Augen, aber mit dem Leben noch nicht abgeschlossen.“ Die Autobiografie wurde auch bei uns unter dem Titel „On the move – mein Leben“ sofort wieder ein Verkaufsschlager. Ebenfalls auf die SPIEGEL-Bestsellerliste kam 2016 ein kleines Büchlein mit seinen letzten Aufsätzen, die unter dem Titel „Dankbarkeit“ zusammengestellt wurden. Ein abgeklärter Arzt und Forscher und eben ein begnadeter Erzähler fasst da sein überreichlich erfülltes Leben zusammen. Wir müssen für die Bekenntnisse dieses Philanthropen vor allem eines sein: dankbar!
Reinhardt Rüdel
Oliver Sacks – Der Tag, an dem mein Bein fortging
Rowohlt Verlag
11. Aufl., November 2001 2. Aufl., Dezember 2015
ISBN 3 499 18884 8