Über ein Jahr verstreicht nach der ersten, sehr positiv verlaufenen, berufsbedingten Begegnung zwischen „Frau Engels“ und „Herrn Erdmann“, bis sich erneut ein Grund für ein geschäftliches Treffen ergibt. Beide sind übrigens selbständige Unternehmer im IT-Geschäft. Frau Engels braucht für einen Klienten Informationen bezüglich Barrierefreiheit und da ist Herr Erdmann Spezialist, denn er ist selbst schwerstbehindert.
Er leidet seit seiner Geburt an Spinaler Muskelatrophie, einer seltenen Krankheit des motorischen Nervensystems, bei der kontinuierlich ein Teil der Motoneurone abstirbt. Die von den Nerven nicht mehr kontrollierten Muskelfasern können dann die vom Gehirn gewünschten Kräfte und Bewegungen nicht mehr ausführen, mit zunehmendem Alter wird der Patient immer schwächer und weniger mobil.
Der 46-jährige Tim Erdmann sitzt während der sich nun anbahnenden Zusammenarbeit bereits nahezu völlig gelähmt im Rollstuhl und wird von sieben Assistenten rund um die Uhr versorgt. Seine Atmung, seine Nahrungsaufnahme, seine Augen und seine Ohren funktionieren erfreulicherweise noch befriedigend, so kann er seinen Beruf als Projektberater recht gut ausführen, denn clever ist er: Die zum Denken benötigten Nerven sind bei dieser Krankheit nie beeinträchtigt.
Die etwa gleichaltrige Aline Engels hat in einem ersten Teil ihres Lebens bereits zwei Kinder bis zur Selbständigkeit großgezogen. Nun hat sie für sich zwei eigene Unternehmen gegründet. Somit ist auch sie Chefin mehrerer Angestellter. Man darf annehmen, dass sie auch genau so clever ist wie er. Und diese beiden einerseits ähnlich gestellten Unternehmer, die andererseits so verschieden in ihren körperlichen Möglichkeiten und auch in ihren bisherigen Lebenserfahrungen sind, die werden also gleichzeitig und jäh von Amors Pfeil getroffen, sie verlieben sich unsterblich ineinander.
Wie der Titel des Buches ahnen lässt, beschreibt diese Autobiografie die vielen Komplikationen, die auftauchen, wenn bei einem Liebespaar einer der beiden unentwegt nebenbei von Assistenten versorgt werden muss, und zwar rund um die Uhr. Was die Protagonisten des Buches anlangt sind beide etwa gleich schüchtern. Tim kann es kaum fassen, dass ihm solches Glück unverhofft wiederfahren soll, Aline muss sich erst einmal mit der Erfahrung auseinandersetzen, dass ihr Geliebter pausenlos von irgendwelchen Helfern umgeben ist. Das ergibt Probleme, welche das Buch ganz ohne Hemmungen ausführlich erzählt.
Viele dieser Situationen werden die Leser des RehaTreff – Betroffene wie ihre Betreuer – zur Genüge kennen. Es wird diesem Leserkreis gefallen, dass diese sonst mit vielen Tabus belegten Schwierigkeiten einmal derart feinfühlig zur Sprache kommen. Bei jedem Betroffenen sind natürlich die Details ein bisschen verschieden, aber man kennt ja die möglichen Schicksale seiner Leidensgenossen aus Aufenthalten in der Klinik, aus der Reha, von sportlichen Zusammentreffen oder von einem Stammtisch her. Jetzt kann man, ohne das eigene Schicksal zu sehr preiszugeben, das Buch kaufen und verschenken, sollte man jemand aus dem Bekanntenkreis informieren wollen.
Das Buch greift schließlich ein Problem auf, das Ende 2015 hochaktuell ist, mit der Verabschiedung des sogenannten Bundesteilhabegesetzes, dessen letztendliche Ausprägung jedoch noch ungewiss ist. Aline und Tim würden gerne heiraten, das tun sie dann auch mit einer heutzutage übers Internet angeheuerten Ritualistin. Das stärkt zwar die Bindung zwischen den beiden Heiratswilligen, hat aber nicht die rechtlichen Auswirkungen wie eine von einem Standesbeamten vollzogene Trauung.
Sollten sich die beiden Liebenden zu einer „echten“ Ehe entschließen, hätte das unter Umständen fatale Auswirkungen auf ihr jeweiliges Einkommen und auf ihre Möglichkeiten, für ihre Altersversorgung anzusparen. Es ist gut, dass das Buch diese aktuelle Problematik anspricht.
Reinhardt Rüdel
Aline Engels
Doppelbett mit Liebesbrücke
Fulda, 2015, erhältlich über Amazon
TB: ISBN 978-3-940210-78-4, 14,99 Euro
Auch als E-book verfügbar