Es ist das wichtigste Grundbedürfnis des Menschen: das Atmen. Doch genau dies hat Herbert Nitsch sich quasi „abgewöhnt“. Der österreichische Taucher kann über neun Minuten lang die Luft anhalten. 33 Weltrekorde im Freitauchen (auch Apnoetauchen genannt) hat er schon aufgestellt. Dabei tauchen die Sportler mit nur einem Atemzug und ohne Pressluft-Flasche in die Tiefe. Herbert Nitsch wollte am 6. Juni 2012 einen weiteren Weltrekord aufstellen. Doch in jenem Frühsommer ist alles anders: Vor der griechischen Insel Santorin taucht der Österreicher wieder ohne Atemgerät ins ägäische Meer. Er möchte dort seinen bisherigen Weltrekord von 214 Metern Tiefe überbieten. Aber der Versuch endet tragisch. Als er nach 4 Minuten und 32 Sekunden wieder an die Wasseroberfläche kommt, ist nichts mehr wie es war.
„Ich hätte den Weltrekordversuch absagen müssen“, sagt Herbert Nitsch heute, wenn er auf den Tag zurückblickt, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Obwohl er damals versuchte, so viele Sicherheitsvorkehrungen, wie nur möglich zu treffen, stand sein Tauchrekordversuch von vornherein unter keinem guten Stern: Die griechischen Behörden legen ihm Steine in den Weg, weil ein Jahr zuvor an gleicher Stelle ein Taucher sein Leben verloren hat. Auch das Wetter ist nicht ideal zum Tauchen, denn es herrscht kräftiger Wind. In letzter Minute springt außerdem ein Sponsor ab. Dadurch muss der Taucher vieles selbst organisieren, und ihm fehlt die Zeit für das eigentliche Training. Von über 100 geplanten Übungs-Tauchgängen schafft er am Ende nur fünf. Am Tag vor dem Weltrekordversuch muss er noch bis zwei Uhr nachts letzte organisatorische Arbeiten erledigen und geht übernächtigt und gestresst in den Rekordtag hinein.
Heute ist ihm klar, dass er nicht hätte tauchen dürfen, doch ein Verschieben des Rekords kam für ihn damals nicht in Frage: „Ich hatte fast 150.000 Euro von meinem eigenen Geld investiert, und außerdem waren Medienvertreter eigens für den Weltrekord angereist, die ich nicht gegen mich aufbringen wollte“, erklärt er. Er glaubte zu diesem Zeitpunkt noch, seinen alten Rekord trotz aller Widrigkeiten überbieten zu können und spielte in Gedanken noch einmal sämtliche Szenarien durch. Das Schlimmste, mit dem er damals rechnete, war ein Trommelfellriss. Dieser sei zwar schmerzhaft, heile aber schnell wieder ab.
Multiple Schlaganfälle nach Tiefenrausch
Doch es sollte ganz anders kommen: Zunächst beginnt alles nach Plan. Der Österreicher schafft es auf eine Tiefe von 253,2 Metern. Aber beim Auftauchen wird er aufgrund eines Tiefenrausches bei etwa 70 Metern plötzlich ohnmächtig. Sicherheitstaucher schwimmen zu ihm, um ihn zu retten. Den geplanten Dekompressionsstopp wagen sie nicht mehr: Eigentlich hätte Herbert Nitsch vor dem Auftauchen in zehn Metern Tiefe etwa eine Minute unter Wasser bleiben müssen, damit Blut und Gewebe den angesammelten Stickstoff wieder abgeben können. Doch diesen Stopp lassen die Sicherheitstaucher aus, damit der bewusstlose Nitsch nicht ertrinkt. Die Folge: Multiple Schlaganfälle. „Es war wie bei einer Sektflasche, die man zu schnell öffnet“, sagt der Taucher heute über seinen Dekompressionsunfall. Was er damit meint: Der Stickstoff in seinem Blut dehnt sich explosionsartig aus, dabei entstehen Bläschen, die die Blutgefäße verstopfen. Der Blutkreislauf ist blockiert. Teile des Gehirns und des Rückenmarks von Herbert Nitsch bekommen zu wenig Sauerstoff.
Vom eigenen Körper im Stich gelassen
Ein Rettungshubschrauber fliegt den lebensgefährlich Verletzten in ein Militärkrankenhaus nach Athen. Die Ärzte versetzen ihn dort in künstliches Koma. Als er wieder aufwacht, wird dem Taucher nur langsam bewusst, was mit ihm geschehen ist. „Es hat einige Wochen gedauert, bis ich richtig mitbekommen habe, wie es tatsächlich um mich steht“, erinnert er sich. „Anfangs hatte ich große Ausfälle. Mir war ständig schwindelig. Ich hatte keine Balance mehr und konnte nicht mal aufrecht im Bett sitzen“, setzt er hinzu. Vier Monate lang muss er einen Rollstuhl nutzen. In dieser Zeit sieht er nur verschwommene Doppelbilder, seine Motorik ist stark eingeschränkt, und das Sprechen fällt ihm schwer. Er leidet unter Wortfindungsstörungen, kann sich an Namen und Gesichter von Freunden plötzlich nicht mehr erinnern. Für den 43-Jährigen, der sich so viel mit Fitness und dem eigenen Körper auseinandersetzt hat, ist es extrem hart, plötzlich vom eigenen Körper im Stich gelassen zu sein.
Die von Red Bull Media House produzierte Doku „Zurück aus der Tiefe“ begleitet ihn bei der Reha und dokumentiert seinen mühsamen Genesungsweg. „Der Kampf zurück war extrem schwierig, und zeitweise war ich sehr verzweifelt“, erzählt er. „Ich hatte überall Schläuche aus meinem Körper hängen und habe die Ärzte hinter meinem Rücken darüber tuscheln gehört, wie schlecht es um mich steht.“ Sogar an Selbstmord dachte er zu dieser Zeit. „Damals hat mich eigentlich nur die Tatsache davon abgehalten, dass sich mein Krankenzimmer lediglich im zweiten Stock befand. Eine Exfreundin von mir ist OP-Schwester. Sie ist vielen Menschen begegnet, die nach einem missglückten Selbstmordversuch vor sich hinvegetieren mussten. Da dachte ich mir, ich warte lieber, bis ich zu Hause bin – da wohne ich nämlich im 26. Stock“, lacht er, und man hört den Galgenhumor heraus, den er sich in der Reha zugelegt hat.
Schon in der Reha taucht er heimlich
Heute ist der Österreicher froh, am Leben geblieben zu sein und die Geduld gehabt zu haben, sich von Lichtblick zu Lichtblick zu hangeln. Vom Rollstuhl ging es zum Rollator, vom Rollator zum Stock – heute braucht er gar keine Gehhilfe mehr. „Von Tag zu Tag gab es kleine Schritte zum Erfolg. Das war wie im Wettkampf, wo man auch nicht vor einem Hindernis zurückschreckt, sondern es überwindet und als Herausforderung ansieht“, erläutert er. Auch heute muss er die Koordination von rechtem Arm und Bein noch trainieren, und er kann nur schlecht schreiben. „Aber hey, es gibt Wichtigeres als eine schöne Handschrift zu haben, oder?“, schmunzelt er. Tatsächlich hat Herbert Nitsch die Prognose der Ärzte weit übertroffen. „Mediziner glauben oft, sie wüssten alles, aber ich bin überzeugt, dass ich selbst meinen Körper immer noch besser kenne als Fremde“, meint er. Als Apnoe-Taucher hat er gelernt, auf seinen Körper zu hören, und so entschließt er sich, sich auch in der Reha lieber selbst um seinen Körper zu kümmern. Er verlangt zu jeder Pille den Beipackzettel, setzt Medikamente heimlich ab – und folgt entgegen dem ausdrücklichen Rat der Ärzte wieder dem Ruf der Tiefe. Schon während der Reha schleicht er sich unbemerkt aus der Klinik und taucht in einem nahe gelegenen See. Mittlerweile ist er beim Freitauchen in der Südsee wieder bis auf 40 Meter Tiefe heruntergegangen. „Apnoe-Tauchen ist nicht nur eine Sportart, sondern ein Lebensgefühl“, schwärmt Nitsch. „Das Tauchen hat meinen Horizont unglaublich erweitert. Darauf plötzlich verzichten zu müssen, wäre so, als ob ich mein halbes Leben aufgeben müsste.“
Roboter unter Wasser
So groß seine Liebe zum Freitauchen auch ist, wenn der 43-Jährige über seine Leidenschaft spricht, dann tut er das ruhig und sachlich – fast wie ein Physiker, der ein Experiment beschreibt: Er spricht von „Risikofaktoren“ und von Grenzen, die beim Apnoe-Tauchen „ausgelotet, verschoben und neu definiert“ werden. Es ist genau diese Rationalität, die er fürs Freitauchen braucht, denn im Unterschied zu den meisten anderen Sportarten ist Apnoe-Tauchen ein Sport, bei dem man völlig ruhig bleiben muss. Adrenalin oder Glückshormone auszuschütten wäre fatal, geht es doch vor allem darum, Puls und Blutdruck möglichst gleichmäßig zu halten, um gegen die Belastungen unter Wasser gewappnet zu sein. Nitsch ist beim Tauchen sogar so kontrolliert, dass er sich den Spitznamen „The Robot“ (der Roboter) zugezogen hat. Für ihn ein Kompliment, denn er weiß, dass kühle Rationalisten in dieser Sportart die Nase vorn haben. Nur, wenn er von dem Gefühl spricht, ohne Pressluftflasche so tief unter der Wasseroberfläche zu tauchen, wie noch nie ein Mensch zuvor, tritt kurz eine andere Seite in dem nüchternen Vernunftmenschen hervor und er wird für einen Moment lang fast poetisch: „So tief im Meer ist es vor allen Dingen sehr finster und sehr einsam, irgendwie bezwingend und befreiend zugleich“, beschreibt er. „Man ist ganz allein in der Kälte des Wassers, aber diese Kälte strahlt auch eine große Ruhe aus.“ Beim Apnoe-Tauchen gehe es aber nicht nur um Tiefenrekorde. „Da gibt es so viele andere Aspekte: die Unterwasserwelt, die Tiere, die Fauna, … man muss gar nicht unbedingt so weit in die Tiefe gehen“, sagt er.
Der Rausch der Tiefe
Seine Faszination für die Tiefen des Ozeans begleitet Herbert Nitsch auch weiterhin. Sein nächster außergewöhnlicher Plan ist es, mit einem U-Boot zum tiefsten Punkt der Erde zu tauchen. Dieser befindet sich im Marianengraben im westlichen Pazifischen Ozean nahe den mikronesischen Inseln in 10.898 Metern Tiefe. An diesem Punkt waren bisher erst drei Menschen, darunter Titanic-Regisseur James Cameron. Herbert Nitsch möchte nun der vierte sein. Auch sein eigenes U-Boot könnte er bald besitzen, denn er möchte sowohl ein U-Boot, als auch ein Schiff entwickeln, die mit Solarantrieb funktionieren und ohne Verbrennungsmotor auskommen. Dabei werden ihm seine Kenntnisse, mit Karbon und Fiberglas zu arbeiten, helfen, da er bereits in der Vergangenheit mit seinem Team eine Tauchausrüstung mit hydrodynamischen Formen und aus leichteren Materialien entworfen und produziert hat.
Langweilig wird es Herbert Nitsch bestimmt nicht, denn er engagiert sich auch noch bei der Umweltschutzorganisation Sea Shepherd Conservation Society für den Schutz der Ozeane, hält Vorträge über Risiko- und Stressmanagement und schreibt neben Büchern über das Freitauchen zurzeit auch an seiner Biografie.
Und dann wäre da natürlich noch sein alter Traum: Der Traum, beim Freitauchen die magische Grenze von 1.000 Fuß (knapp 305 Meter) Tiefe zu erreichen. Ob er sich vorstellen kann, nochmal einen neuen Tauch-Rekord aufzustellen? – „Sag niemals nie.“
Info-Box:
Herbert Nitsch begann mit 15 Jahren mit dem Gerätetauchen. Seine Leidenschaft fürs Apnoe-Tauchen entdeckte er eher zufällig. Bei einer Tauchsafari in Ägypten um die Jahrtausendwende ging sein Gepäck auf dem Flug verloren, sodass er ohne Sauerstoffflasche und Taucher-Ausrüstung tauchte. Ein Bekannter machte ihn dann darauf aufmerksam, dass diese Form des Schnorchelns als „Freitauchen“ eine eigene Sportart war. Daraufhin brachte sich Nitsch autodidaktisch das Apnoe-Tauchen bei und erweiterte sein Lungenvolumen durch spezielle Atemtechniken auf 15 Liter. Bei einem durchschnittlichen Erwachsenen sind es gerade einmal fünf bis sechs Liter. Seit 2007 darf sich der Taucher offiziell „The Deepest Man on Earth” nennen. Diesen Titel erhielt er für seinen Weltrekord von 214 Metern Tiefe, den er 2007 in der so genannten „No Limit“-Disziplin des Freitauchens aufstellte. Dabei zieht ein Schlitten den Taucher an einer Leine in die Tiefe.
Verena Zimmermann
Dieser Artikel erschien im RehaTreff 2/2014 und kann hier als PDF heruntergeladen werden.
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