Der Junge, der in Bethel laufen lernte

Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Artem ist jetzt unterwegs, aber es hat lange gedauert, ehe er losgehen konnte. Der 13-jährige Junge aus der Ukraine ist geistig wie körperlich stark eingeschränkt. Er kann nicht sprechen und saß sein Leben lang im Rollstuhl oder lag im Bett, ehe er im März 2022 vor dem Krieg in seiner Heimat fliehen musste. Mit mehr als 100 anderen, ebenfalls beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen kam er in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld unter. Bethel engagiert sich für behinderte, kranke, alte oder benachteiligte Menschen. Artem lernte in Bethel so gut laufen, dass er inzwischen regelmäßig Spaziergänge unternimmt. Dabei immer an seiner Seite: Ehrenamtler Christian Götze und dessen Rauhaardackel Oakley.

In der Ukraine lebte Artem bis zum Beginn des Krieges in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit schweren Beeinträchtigungen. Seine Mutter besucht ihn gelegentlich in Bethel, doch das Bielefelder Jugendamt hat die Vormundschaft übernommen. Zum Schutz des Jungen ist dieser Bericht in Absprache mit dem Jugendamt nur unter der Voraussetzung möglich, dass sein Gesicht nicht zu sehen ist und sein echter Name nicht genannt wird. Artem heißt eigentlich anders.

Als Christian Götze sich Zeit für ein Gespräch nimmt, erzählt er mit einer Mischung aus Bewunderung und Ungläubigkeit von den Mitarbeitenden des Betheler Kinder- und Jugendhospizes. Sie päppelten Artem acht Monate lang auf. „Er saß im Rollstuhl, als er nach Bethel kam, er war geschwächt und verkrampft“, berichtet Christian Götze. Dank intensiver Zuwendung und vielfältiger Therapien verbesserte sich Artems Zustand, und schließlich war es ihm sogar möglich, aus dem Rollstuhl aufzustehen und erste Schritte zu gehen. „Es ist Wahnsinn, was die Leute im Hospiz mit ihm geschafft haben“, sagt Christian Götze, „er hat riesige Fortschritte gemacht. Das ist ein Wunder.“ Inzwischen lebt Artem im Betheler Haus Mamre und besucht erstmals eine Schule: die Mamre-Patmos-Schule.

Beim therapeutischen Reiten, für das sich Christian Götze als leidenschaftlicher Reiter interessiert, lernte er Artem im Sommer 2022 in Bethel kennen. Und beschloss, ihn zu unterstützen. „Bis es losgehen konnte, vergingen aber noch drei Monate, weil ich erst ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen musste und es Gespräche mit den Verantwortlichen gab.“

Während Christian Götze spricht, sitzt Artem auf seinem Schoß, kuschelt sich an seinen großen Freund und strahlt über das ganze Gesicht: Heute ist endlich wieder Christian-Tag. Immer freitags kommt der Ehrenamtler nach der Arbeit in das Haus Mamre und besucht den Jungen. Sie machen dann einen Spaziergang. Christian Götze stimmt „Wir ziehen froh und zufrieden durch die Lande“ an, Artem summt mit, und Dackel Oakley trottet nebenher. Einen Rollstuhl haben sie zwar dabei, doch Artem läuft immer weitere Strecken.

Christian Götze ist 54, Vater zweier erwachsener Kinder und im Vertrieb eines Unternehmens für Reitmode tätig. Er engagiert sich in seinem Heimatort Enger im Kreis Herford in der katholischen Kirchengemeinde. „Ich brauche Menschen um mich herum wie die Luft zum Atmen“, sagt er, „und wenn ich sie zum Lächeln bringen kann, ist das für mich ein Geschenk. So ist das auch mit Artem. Wenn ich bei ihm bin, bin ich glücklich.“ Für ihn ist freitags endlich wieder Artem-Tag.

In den mittlerweile eineinhalb Jahren mit Artem hat Christian Götze seinen kleinen Freund gut kennengelernt und liebgewonnen. So sehr, dass er sich nicht vorstellen kann, ihn nicht mehr zu unterstützen. „Ich möchte ihm auf seinem Weg ins Leben helfen“, sagt er, „denn auch Artem soll die Chance haben, etwas von der Welt zu sehen.“

 

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