Von Carlos‘ Heimat Trinidad und Tobago sind es über 7.000 km bis London. Carlos Greene war einer von zwei Athleten des kleinen Inselstaates, der diesen Sommer die weite Reise in die Metropole an der Themse antrat. Die Paralympics sind die bisherige Krönung seiner Karriere. Seit Anfang 2011 haben Carlos und sein Trainer Lester Osouna bei den Vorbereitungen hart gearbeitet. Nach der Qualifizierung in Kanada trainierten die beiden im heimischen Waterloo drei Vormittage und drei Abende pro Woche.Sie konnten einen Ölmulti als Sponsor gewinnen.
Auch wenn er in London keine Medaille für sein Land gewinnen konnte, so ist Carlos doch stolz, dass er und seine LandsfrauShanntol Ince ihr Heimatland nach 24 Jahren endlich wieder bei den Paralympics vertreten konnten. „Der Einmarsch in das Londoner Olympiastadion als Flaggenträger ließ mir den Atem stocken“, sagt er sichtlich berührt.
Diagnose „Grüner Star“
Bis zum Jahr 2000 lebte Carlos Greene auf Trinidad und Tobago ein unbekümmertes Leben. Er war zunächst Elektriker, später Schneider, er hatte eine große Familie und trieb in seiner Freizeit gerne und ausdauernd Sport. Außerdem engagierte er sich als Sozialarbeiter.Dann wurde Ende 1999 bei ihm ein Glaukom diagnostiziert. Die Erkrankung, auch als Grüner Star bekannt, zerstört die Nervenfasern im Auge und führt ohne entsprechende Behandlung nach einiger Zeit zur Erblindung. „Die Ärzte gaben mir noch vier bis fünf Jahre, doch vier Monate später verdunkelte sich meine Welt von heute auf morgen“, berichtet er. „Ich war am Boden zerstört, ich hatte Angst, das Haus zu verlassen, konnte meinen Beruf nicht mehr ausüben und sah zunächst keine Zukunftsperspektive für mich“, so Carlos weiter. Nach einem Blindentraining gewann er Selbstvertrauen und machte sich langsam daran, wieder zurück ins Leben zu finden.
Aufstieg nach dem Fall
Auf dem Weg in die Selbständigkeit hatte der 43-jährige Sportler auch Rückschläge zu verkraften. „Das Leben auf Trinidad und Tobago, meiner Heimat, birgt so seine Gefahren“, sagt der dunkelhäutige Athlet. „Als ich wenige Wochen nach meiner Erblindung nur Meter von meinem Haus entfernt in die Grube einer ungesicherten Baustelle fiel, war ich sprichwörtlich am Tiefpunkt.“
Zu seiner eigenen Verwunderung war er drei Jahre später nicht nur wieder aktiver Sportler, sondern stand auch dem nationalen Sportverband als Präsident vor. Er begann mit Fitnesstraining, nachdem er durch seine Untätigkeit massiv zugenommen hatte. Nach vier Monaten kam er zum Gewichtheben. Er fand Gefallen an der Möglichkeit, sich wieder sportlich zu betätigen und sich im Wettbewerb zu vergleichen. Seinen ersten Wettkampf bestritt er 2003. Auch wenn die Medaille nur ein Trostpreis für den einzigen behinderten Teilnehmer war, so empfand er doch ein Glücksgefühl. „Es öffnete sich eine Tür“, erzählt der Trinidader. Von da an stand der Sport im Mittelpunkt.
Sportlicher Ehrgeiz geweckt
Sport sei bereits in der Schule sein Lieblingsfach gewesen, berichtet er. Nun habe der Sport ihm Würde und wieder eine Aufgabe gegeben. Nach weiteren nationalen Wettbewerben nahm er dann 2007 als einziger Blinder an den nordamerikanischen Meisterschaften in Guatemala City teil. Finanziell unterstützt, wurde er vom Sportministerium.„Als ich am Ende des Wettbewerbs meine Nationalhymne hören durfte, war das ein sehr bewegender Moment“, erzählt der neunfache Vater. 2008 legte er dann richtig los. Bei den World Blind Powerlifting Championships, den Weltmeisterschaften für Blinde, gewann er Gold und brach elf Weltrekorde. 2009 brach er erneut sieben seiner Rekorde. Danach suchte er eine neue Herausforderung. Bei einem Sportfestival lernte er die Sportarten Diskuswerfen und Kugelstoßen kennen.
Tausch Hantel gegen Diskus und Kugel
Eine ganz neue Situation für den Gewichtheber. Carlos musste lernen, sich durch Audiosignale und durch Tasten des Bodenbelags mit dem Fuß im Raum zu orientieren. Sein Trainer Lester lobt den Ehrgeiz und die Ausdauer seines Schützlings. Er hat sein ganzes Leben lang Athleten betreut. „Ich war dabei in Rente zu gehen, und dann kam Carlos“, sagt er. Seine Willensstärke und Hingabe hatten den Coach überzeugt, es noch einmal zu versuchen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. 2011 gewann Carlos bei einem Wettbewerb eine Silbermedaille beim Diskuswerfen. Das ließ auf mehr hoffen.
Was von London bleibt
Carlos hat erreicht, wofür er nach London gekommen ist. Der mehrfach ausgezeichnete Athlet hat bei den Paralympics 2012 seine persönliche Bestleistung übertroffen und wichtige Erfahrungen sammeln können. Er hofft, dass seine Teilnahme die Behindertensportbewegung in seinem Land belebt und mehr Athleten motiviert, auch an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen. Er hat bereits einmal erlebt, wie der Erfolg ansteckend wirkte. Vor seiner Karriere als Gewichtheber war diese Sportart in dem karibischen Inselstaat eine fast ausgestorbene Disziplin. Nun sei aus dem Verband, dessen Vorsitzender er war, eine lebendige Organisation mit vielen aktiven Mitgliedern geworden.
In den letzten zwölf Jahren habe er mehr erreicht als in dem Lebensabschnitt vor seiner Behinderung, sagt der Paralympionike. Doch er bleibt weiter ehrgeizig und will bei den nächsten Weltspielen wieder dabei sein. Rio 2016 fest im Blick, hat er sich vorgenommen, in den nächsten vier Jahren zur Weltspitze aufzuschließen. „Das Medaillengewinnen macht Lust auf mehr“, sagt Carlos mit einem Lachen und man gönnt dem sympathischen Sportler den Erfolg aus vollem Herzen.