Als einjähriges Kind infizierte sich der Sohn türkischer Eltern Dergin Tokmak mit Poliomyelitis (Kinderlähmung). Die Krankheit griff seine Muskelnerven an. So verlor er die Kontrolle über sein linkes Bein. In seinem rechten Bein behielt er eine eingeschränkte Körperbeherrschung. Das hielt ihn aber nicht davon ab, seinen Traum vom Tanzen zu verwirklichen und sich sogar zum einzigen behinderten Akrobaten des weltbekannten Zirkusunternehmens „Cirque du Soleil“ hochzuarbeiten.
Das Markenzeichen des 38-Jährigen: sein Handstand auf Krücken. Das konnte sogar Dieter Bohlen Respekt abringen, der Dergin bei seiner Teilnahme am RTL-Castingformat „Das Supertalent“ bestätigte: „Du hast mit Deinem Willen Berge versetzt. Das war eine Mischung aus Flugakrobatik und Körperkarussell!“ Im RehaTreff-Interview erzählt Dergin, warum seine Krücken ihn mindestens genauso sehr brauchen, wie er sie, weshalb eine schwere Verletzung fast seine Karriere zerstört hätte, und wie man Michael Jacksons Moonwalk auf Krücken meistert.
RT: Herr Tokmak, wenn man auf Gehhilfen angewiesen ist, liegt die Begeisterung fürs Tanzen eigentlich erstmal nicht so nahe. Wie sind Sie zum Tanzen gekommen?
DT: Ich habe mich mit zwölf Jahren von der damaligen Breakdance-Welle anstecken lassen. Mein Cousin war eigentlich der ausschlaggebende Mann dafür, dass ich mit dem Tanzen angefangen habe. Ich habe ihn damals oft vom Fenster aus beim Training beobachtet und habe das Breakdancen dann auch bald selbst ausprobiert. Spätestens, als mein Cousin mir dann das Tanzvideo „Breakin’“ gezeigt hat, in dem ein Tänzer auf Krücken zu sehen ist, wusste ich, was ich wollte.
RT: Trotzdem haben Sie sich nicht gleich für eine Laufbahn als Tänzer und Akrobat entschieden.
DT: Es ist nun mal nicht einfach, vom Tanzen allein zu leben, deshalb habe ich erstmal den sicheren, konventionellen Weg gewählt und eine Ausbildung als technischer Zeichner absolviert. Ich habe auch acht Jahre in dem Beruf gearbeitet, wollte aber eigentlich nie hinterm Schreibtisch sitzen, sondern viel lieber körperlich aktiv sein. Seit dem Angebot vom Cirque du Soleil kann ich mich nun endlich ganz aufs Tanzen konzentrieren.
RT: Sind Sie ein anderer Mensch geworden, seit Sie sich voll dem Tanzen widmen?
DT: Ich habe im Prinzip schon immer zwei Persönlichkeiten: Eine, wenn ich im Rollstuhl sitze, und eine, wenn ich auf der Bühne tanze. Auf der Bühne bin ich Superman, der seine Heldentaten vollbringt. Wenn ich von der Bühne komme und mich in meinen Rollstuhl setze, fühle ich mich eher wie Clark Kent. Dann sehen mich die Menschen als Dergin, den Rollstuhlfahrer. Auf der Bühne bin ich Dergin, der Tänzer. Im Kostüm mit Make-up und im Scheinwerferlicht sehen die Leute mich plötzlich mit anderen Augen.
RT: Superman hat Superkräfte. Was ist Ihre „Superkraft“ als Tänzer? Wodurch zeichnen Sie sich aus?
DT: Durch meine akrobatischen Einlagen, denn meine tänzerischen Wurzeln liegen nun mal im Breakdance. Meine Spezialität sind der Handstand auf Krücken und die so genannten „Flares“, bei denen ich mich auf meinen Krücken hochstemme und mich dann in der Luft drehe. Dies mit ruhigen Elementen zu kombinieren, ist dann die hohe Kunst.
RT: Sie zeigen beeindruckende Kunststücke auf Ihren Krücken. Welche Beziehung haben Sie zu Ihren Gehhilfen?
DT: Wir sind im Prinzip verschmolzen. Manchmal frage ich mich, ob ich die Krücken brauche, oder ob sie mich brauchen. Für mich sind sie eine Verlängerung meiner Arme und dadurch fast so etwas wie eine Waffe, denn ich baue ja auch Martial-Arts-Elemente aus dem Kampfsport in meine Nummern ein. Auf jeden Fall würde ich sagen, dass ich und meine Krücken mittlerweile eine akrobatische Beziehung führen: Sie sind eher eine Requisite als ein Hilfsmittel für mich geworden.
RT: Was bedeutet das Tanzen mit Krücken heute für Sie?
DT: Tanzen bedeutet für mich, mich frei auszudrücken. Es ist für mich eine Art Meditation, ein Weg, um mich spirituell mit meinem Körper auseinanderzusetzen und ihn so besser kennen zu lernen. Seit frühester Kindheit ist der Tänzer daher mein absoluter Traumjob.
RT: Und den haben Sie ja dann auch bekommen. Sie haben das Angebot erhalten, in der Varekai-Produktion des Cirque du Soleil den hinkenden Engel zu spielen. Wie haben die Verantwortlichen vom Cirque du Soleil reagiert, als Sie dort beim Casting im Rollstuhl vorgefahren sind?
DT: Da gab es erst mal fragende Gesichter. Ihnen war zwar klar, dass ich auf Krücken tanze, aber wohl doch nicht ganz bewusst, dass da ein Rollstuhlfahrer bei ihnen vorfahren würde. Als ich ihnen dann aber erklärt habe, dass ich die Krücken für meine Auftritte benutze und im Privaten den Rollstuhl gebrauche, damit ich in meiner Freizeit die Hände frei habe, haben sie ganz locker und entspannt reagiert. Es musste auch nicht vieles für meine Bedürfnisse angepasst werden: Wir haben backstage und beim Bühnenaufgang nur ein paar Rampen angebaut und in der Küche einen Eco-Lift installiert.
RT: Wie sind die anderen Artisten des Cirque du Soleil mit Ihrer Behinderung umgegangen?
DT: Die meisten hatten ja sonst nur mit absoluten Spitzensportlern zu tun und kannten deshalb gar keine Menschen mit Behinderung. Deshalb musste ich erstmal viele Fragen beantworten, z.B. wie ich überhaupt zum Tanzen gekommen bin. Manche standen mir auch skeptisch gegenüber und dachten, dass ich es keine zwei Monate durchhalten würde, weil die körperlichen Anforderungen so hoch waren. Aber auch diesen Leuten habe ich bewiesen, dass ich durchhalten kann und mich so etabliert. Letztendlich sind alle ganz offen und normal mit mir umgegangen.
RT: Welche körperlichen Herausforderungen hat die Rolle des hinkenden Engels an Sie gestellt?
DT: Vor allem die Länge der Nummer war eine echte Herausforderung für mich! Ich hatte noch nie eine Solonummer von viereinhalb Minuten durchgetanzt und merkte schnell, dass ich die Akrobatik-Elemente runterschrauben musste, weil es sonst zu anstrengend geworden wäre. Stattdessen habe ich neue Tanzstile, z.B. aus dem zeitgenössischen Tanz, in meine Nummer integriert. Dabei habe ich auch gelernt, die Akrobatik der Musik anzupassen und zu schauspielern. Hinzu kam, dass die Direktorin wollte, dass ich eine Glide-Bewegung einbaue. Dabei simuliere ich mit den Beinen eine kleine Laufbewegung. Das sieht in etwa so aus, wie Michael Jacksons Moonwalk – nur vorwärts. Allerdings hatte ich sonst nie meine Beine benutzt und war es nicht gewöhnt. Unten auf dem Boden zu tanzen, war auch eine ganz neue Erfahrung für mich. Am Anfang hat sich das wie eine Art Erniedrigung angefühlt. Ich musste in meiner Rolle als hinkender Engel so tun, als ob ich hinfalle. Das hat mich schon einiges an Überwindung gekostet.
RT: Sie sind bei einer Vorstellung auch gestürzt und mussten länger pausieren?
DT: Ja, ich hatte durch den Sturz eine längere Verletzung. Als ich dann noch einen Kortisonschuss bekam, verlor ich die Kontrolle über meinen gesamten Trizeps. Ich hatte einfach keine Kraft mehr und bin mitten in der Nummer auf den Boden gefallen. Da habe ich nur gedacht: Jetzt ist es aus. Du wirst nie wieder tanzen können. Ich musste mich dann unters Messer legen und eine Reha machen.
RT: Also war erstmal Schluss mit Tanzen?
DT: Ja. Etwa ein Jahr lang hatte ich komplett die Nase voll vom Bühnenleben und habe mich an meinem Tiefpunkt nur noch zu Hause versteckt. Ich hatte das Gefühl, dass die Ärzte mich zwar irgendwie soweit zusammengeflickt hatten, dass ich meinen Alltag bewältigen konnte, aber an Tanzen war nicht zu denken und auch mein Vertrag mit dem Cirque du Soleil war mittlerweile ausgelaufen. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich nicht hängen lassen darf und wieder angefangen zu trainieren. Dann hat sich überraschend auch der Cirque du Soleil wieder bei mir gemeldet, weil mein Vorgänger inzwischen das Handtuch geworfen hatte. Ich hab keinen Augenblick lang gezögert und bin wieder in meine alte Rolle eingestiegen.
RT: Insgesamt waren Sie sechs Jahre lang auf Tour. Wie war die Zeit beim Cirque du Soleil?
DT: Die Zeit war eine unglaubliche Erfahrung für mich. Ich habe so viele Kontinente und Länder gesehen und durfte dabei das Reisen und meine Akrobatik verbinden. Außerdem habe ich durch den Cirque du Soleil sehr viel Bühnenerfahrung gewonnen. Den hinkenden Engel habe ich fast 2000mal getanzt und so meinen ganz eigenen Tanzstil gefunden. Vom Hip Hop bin ich so zum klassischen Tanz gekommen und habe weitere Tanz- und Musikrichtungen für mich entdeckt.
RT: Warum haben Sie sich nach Ihrem Engagement beim Cirque du Soleil ausgerechnet entschlossen, bei der TV-Show „Das Supertalent“ mitzumachen?
DT: Ich habe eigentlich immer gesagt, dass ich nie bei einer Talentshow mitmachen würde. Allerdings ist mir klar geworden, dass sich diese Shows auch viele junge Leute und Familien ansehen, die vielleicht nicht soviel Geld haben, um sich eine Cirque du Soleil-Show leisten zu können. Ich wollte „Das Supertalent“ deshalb als Plattform nutzen, um meinen Tanzstil den Menschen zu präsentieren, die mich sonst nicht gesehen hätten.
RT: Wie war es, im Fernsehen aufzutreten?
DT: Das war schon ein komisches Gefühl, denn eine TV-Bühne war eine ganz andere Tanzbühne als ich sie vorher kannte. Alles hat total unreal auf mich gewirkt, weil es so eine neue und intensive Erfahrung war. Ich war natürlich auch aufgeregt, mich im Wettbewerb mit anderen Künstlern zu messen und glücklich, bis ins Finale zu kommen.
RT: Haben Sie sich als Tänzer mit Behinderung denn nicht ein wenig als Exot oder „Freak“ für das TV-Format ausgenutzt gefühlt?
DT: Absolut nicht. Für mich war das Supertalent ja gerade eine Show für Freaks wie mich – für außergewöhnliche Menschen eben, die ein Talent habe, das nicht alltäglich ist. Mich hat es schon eher gestört, dass ausgerechnet ganz „normale“ Leute mit gewöhnlichen Musik- oder Gesangseinlagen im Finale standen.
RT: Welche Träume und Pläne haben Sie jetzt für Ihre Zukunft?
DT: Meine neue Nummer, die ich in Auszügen auch schon beim Supertalent gezeigt habe, ist fast fertig. Damit würde ich dann gern touren oder auch bei anderen Nummern mitmachen. Ab dem 21. Mai ist außerdem meine Autobiographie „Stix: Mein Weg zum Tänzer auf Krücken“ im Buchhandel erhältlich. Bis 2014 soll dann noch ein Dokumentarfilm über mich fertig werden. Es ist mir sehr wichtig, meine eigene Geschichte weiterzugeben und den Menschen zu zeigen: Wenn man kämpft, kann man alles erreichen!
Verena Zimmermann