Ein Apartmenthaus für Menschen mit Behinderungen und Studierende

Was tun, wenn das eigene Kind irgendwann selbstständig werden will? Eltern von Kindern mit Behinderung stellt diese Tatsache vor besondere Herausforderungen. In Osnabrück ist aus dieser Frage ein inklusives Wohnprojekt entstanden. Im WirQuartier leben Menschen mit Behinderung gemeinsam mit Studierenden unter einem Dach. Vom inklusiven Wohnen profitieren beide Seiten.

Im September 2015 wurde das WirQuartier im Herzen der Osnabrücker Weststadt offiziell eröffnet. Das Haus sieht wie die anderen Neubauten in der noch neuen Wohnstraße aus. Es trägt kein Schild an dem Vorbeikommende erahnen könnten, was sich darin verbirgt. Drinnen teilen sich 28 Studenten das WirQuartier zusammen mit 18 Menschen mit Behinderungen, in 46 einzelnen Apartments.

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Julia W. und Rafael V. leben Tür an Tür im WirQuartier. Foto: Silke Bicker

Die Idee zum WirQuartier geht auf ein Ehepaar zurück, dessen Sohn Theo mit dem Downsyndrom geboren wurde. Theo sollte selbstständig leben können, dabei aber nicht ganz auf sich alleine gestellt sein. 2006 gründete das Paar eine Elterninitiative unter dem Dach der Lebenshilfe. Die Mitglieder informierten sich unter anderem in Münster, wo Menschen mit Behinderungen zusammen mit Sozialhilfeempfängern unter einem Dach wohnen. Sie entwickelten die Idee weiter und fanden ein geeignetes Baugrundstück.

Das WirQuartier entstand für 4,2 Millionen Euro und gehört der Heilpädagogischen Hilfe Osnabrück e. V. (HHO). Diese begleitet Menschen mit Behinderung auf ihrem Weg zu einem möglichst selbstständigen Leben. Dabei ist die Art der Behinderung egal. Der Verein existiert seit 1960. Die Finanzierung erfolgte über zahlreiche Organisationen und Förderer. Zu ihnen zählen die Förderstiftung der HHO, der Osnabrücker Club, die Friedel & Gisela Bohnenkamp-Stiftung, die Sparkasse, die Lebenshilfe und das Studentenwerk der Hochschulen Osnabrück. Letzteres schloss für die Apartments der Studierenden einen Mietvertrag über 20 Jahre mit dem Eigentümer HHO ab.

Gemeinsame Aktivitäten

Die Organisatoren und Stifter dachten anfangs, es würden sich nur Studierende pädagogischer Fachrichtungen für dieses Haus melden. Weit gefehlt: Die jungen Leute sind fachlich bunt gemischt unterwegs, sogar jemand aus dem Gebiet der Luft- und Raumfahrttechnik sei dabei. Alle Studenten – ob angehende Juristen, Designer oder Lehrer – bekommen natürlich einen guten Blick für die Bedürfnisse behinderter Menschen, der ihnen vielleicht auch später im Beruf nutzen wird.

Die Lebenshilfe Osnabrück begleitet das Projekt. Sie unterhält ein Büro im Erdgeschoss, wo sich die Bewohner schlau machen oder Hilfe holen können, wenn mal etwas nicht so ganz klappt. Bisher kämen sie allerdings meistens selbst auf gute Ideen und fragten lediglich nach, wie sie etwas gemeinsam realisieren könnten. So möchten Gartenbaustudenten gerne zusammen mit Bewohnern mit Behinderung ein Hochbeet bauen und bepflanzen.

„Jeden Donnerstag ist bei uns ein Aktionsabend. Einmal bearbeiteten wir Kürbisse, höhlten sie aus, kochten Suppe aus dem Fruchtfleisch und erhielten die Schalen als Windlichter. Seit kurzem gibt es einen Geburtstagskalender, und die Geburtstage werden auch im Haus gefeiert“, so Henrik de Jong, fester Mitarbeiter der Lebenshilfe Osnabrück und Masterstudent für Soziale Arbeit.

Die Apartments des Studentenwerks der Osnabrücker Hochschulen sind grundsätzlich mit einer Einbauküche, einer Garderobe samt Kleiderschrank und einem Duschbad eingerichtet. Denn die Fluktuation unter Studierenden ist deutlich höher als die normaler Mieter. Die Lebenshilfe wiederum vermietet ihren behinderten Langzeitbewohnern leere Apartments. Sie müssen sich selbst eine Küche kaufen und eine passende Dusche oder Wanne im Bad einbauen lassen.

Das WirQuartier ist weder Wohnheim noch Wohngemeinschaft. Alle Mieter leben eigen- und selbstständig. So unterhält die Lebenshilfe zwar ein rund um die Uhr besetztes Büro im Haus, bietet aber keine Rufbereitschaft, mit der etwa eine pädagogische oder therapeutische Pflege verbunden wäre an. Einziehende Bewohner mit körperlichen Einschränkungen müssen ihren Hilfebedarf selbst abdecken. „Die Behinderten müssen in der Lage sein, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu kommunizieren und schon in etwa wissen, was selbstständiges Wohnen bedeutet“, erläutert Henrik de Jong. Ansonsten laufe das Miteinander nicht gut.

Ein funktionierendes Netzwerk

Ohne dieses Miteinander von Stiftungen wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen, führt Heiner Böckmann von der HHO aus. Fritz Brickwedde vom Osnabrücker Club ergänzt leidenschaftlich: „Voraussetzung dafür ist ein funktionierendes Netzwerk bürgerschaftlichen Engagements, das in Osnabrück vorhanden ist. Mehr Wir- als Ich-Quartiere brauchen wir.“ Allerdings sei ein Projekt wie das WirQuartier nur möglich, wenn es festangestellte Mitarbeiter gäbe. Ausschließlich mit Ehrenamtlichen sei so ein inklusives Projekt nicht zu stemmen. „Wenn man dieses Haus betritt, überkommt einen eine Welle von Glück“, lächelte der Vater einer im WirQuartier lebenden behinderten Tochter.

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Sozialarbeiter und Masterstudent Hendrik de Jong (links) ist der einzige fest angestellte Mitarbeiter im WirQuartier und steht den Bewohnern, hier Rafael V., mit Rat und Tat zur Seite. Foto: Silke Bicker

Rafael V. (36) führte bis kurz nach seinem Abitur ein ganz normales Leben, doch dann wurde bei ihm eine genetisch bedingte Friedberg-Ataxie festgestellt. Zuerst traten Geh- und Gleichgewichtsstörungen auf, dann brauchte er einen Rollator und konnte nicht mehr Autofahren. Zu guter Letzt landete er im Rollstuhl und bekam eine handfeste Depression. Neun Jahre lang isolierte er sich und wandte sich dann an die Caritas über die er auf Umwegen an die Heilpädagogische Hilfe geleitet wurde. Diese bot ihm die Möglichkeit, ein eigenes Apartment im WirQuartier zu beziehen. „Ich habe ein super Gefühl im WirQuartier, komme prima alleine klar. Meine Küche habe ich mir so eingerichtet, dass die Spüle unterfahrbar ist. Hier im Haus sind alle freundlich und hilfsbereit. Durch die vielen jungen Leute fühle ich mich nicht so alt wie ich bin“, erzählt er.

Gemeinschaft mit Rückzugsmöglichkeit

Julia W. (24) studiert Biologie und Germanistik auf Lehramt. Sie wohnt bereits seit vier Jahren in Osnabrück. Ende September zog sie aus einer intakten Wohngemeinschaft in ein Apartment des WirQuartiers ein. Sie organisiert das Sonntagsfrühstück mit und engagiert sich auch sonst gerne. „Ich fühle mich total wohl. Aber es bringt mich auch an meine Grenzen. Ich lerne hier mit ganz verschiedenen Lebensgeschichten umzugehen und Hilfe zu leisten für die behinderten Bewohner. Nebenher läuft ganz viel. Das Leben im Haus ist wie in einer großen Jugendherberge. Allerdings hat jeder sein eigenes Apartment und damit eine Rückzugsmöglichkeit. Ebenso kann man im Schlafanzug über den Flur laufen“, fasst sie zusammen.

Hendrik de Jong (25) ist seit 2013 Sozialarbeiter und Masterstudent „Soziale Arbeit“. Seit Juli 2015 ist er mit einer auf zwei Jahre befristeten halben Stelle dabei. Primär geht es ihm um die lokale Gestaltung sozialer Teilhabe, um die Sensibilisierung zwischen Studierenden und Menschen mit Behinderung sowie die praktische Verknüpfung von Wissen und Handeln.

Hendrik de Jong ist als Ansprechpartner im Büro der Lebenshilfe im WirQuartier der einzige fest angestellte Mitarbeiter von dreien, der ausschließlich für das WirQuartier zuständig ist. Er koordiniert nicht nur Projekte der Bewohner und sorgt für deren Vernetzung innerhalb des Hauses, sondern er lässt auch Anwohner und Gäste an den Geschehnissen teilhaben und ist nicht zuletzt für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. „Manchmal muss ich auch Konflikte schlichten. Das Haus findet seine inneren Strukturen noch, aber die Bewohner sind auf einem guten Weg“, ist er der Überzeugung.

Eine Win-win-Situation

 Jeder Bewohner mit Behinderung zahlt eine andere Miete. Denn im Gegensatz zu den Studentenapartments hängt die Ermittlung der Miete hier von der Größe des Apartments, dem Verdienst, der Eingliederungshilfe und unterschiedlichen weiteren Komponenten ab. Meist beträgt die Kaltmiete plus minus 450 Euro.

Die Warmmiete der Studierenden beträgt 280 Euro inklusive Internetanschluss. Die Apartments des Studentenwerks sind alle 26 m² groß. Das Haus ist ein lang gestrecktes Passivhaus mit einem Flachdach und drei Geschossen. Einige Apartments, wie auch der Gemeinschaftsraum, haben durch Terrassen einen Zugang zum Garten.

Die Studenten verpflichten sich, monatlich 18 Stunden nachbarschaftliche Hilfe im Haus zu leisten. Dazu gehört ausdrücklich keine Pflege und keine Therapie.

Zu Beginn eines Semesters organisiert die Lebenshilfe ein Treffen aller Bewohner, bei dem verbindlich für die Studierenden die Zeiten ihrer Ansprechbarkeit verteilt und festgelegt werden. Dabei werden auch Regeln bestimmt, wie bei plötzlicher Verhinderung die Vertretung geregelt werden kann. Grundsätzlich muss ein die Bereitschaft übernehmender Studierender zwischen 20 Uhr und 7 Uhr ansprechbar sein. Für diese Zeit wird eine Ehrenamtspauschale in Höhe von 15,60 Euro gezahlt. Der diensthabende Studierende erhält ein Mobiltelefon, über das er für die Bewohner erreichbar ist.

Den Financiers war die Realisierung dieses Apartmenthauses ein Bedürfnis, und sie freuen sich, wenn dieses Konzept nachgeahmt wird. Als Ansprechpartner für Interessierte steht Hendrik de Jong zur Verfügung.

Silke Bicker

Kontakt: wirquartier@lebenshilfe-osnabrueck.de

Dieser Artikel erschien im RehaTreff (02/2016).
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