Dr. Jörg Kopecz, Geschäftsführer des Deutschen Evangelischen Kirchentages, gibt sich selbstbewusst: „Wir setzen seit 30 Jahren Maßstäbe in Sachen Großveranstaltungen. Was barrierefreie Events betrifft, sind nur die Paralympics größer.“ Gemeinsam mit der Behindertenbeauftragten der Stadt Stuttgart, Ursula Marx, dem Zweiten Vorsitzenden der Projektleitung Kirchentag Barrierefrei, Frank Kissling, und Michael Brenner, dem Geschäftsführer der Heidehof-Stiftung, präsentierte Kopecz auf einer Pressekonferenz in Stuttgart das Barrierefrei-Konzept des Deutschen Evangelischen Kirchentages, zu dem die Baden-Württembergische Landeshauptstadt vom 3. bis zum 7. Juni 2015 gut 100.000 Teilnehmer erwartet.
Tatsächlich glänzt das Großereignis mit Ideen in Sachen Inklusion und Barrierefreiheit, die über das Maß des Üblichen hinausgehen und von viel Liebe zum Detail zeugen. Ein besonderes Augenmerk richten die Organisatoren zum Beispiel auf die Berücksichtigung von Teilnehmern, deren Behinderungen nicht so offensichtlich sind wie etwa die von Rollstuhlnutzern. So wird ein Teil der Veranstaltungen von Schriftdolmetschern begleitet werden, die die Vorträge untertiteln. Hörbehinderte können so den Vorträgen auf Leinwänden mit den Augen folgen. Auch werden bei etlichen Veranstaltungen Simultandolmetscher die Vorträge in leichte Sprache übersetzen, was es Teilnehmern mit kognitiven Behinderungen leichter macht, dem Geschehen zu folgen. Viele Veranstaltungen werden induktiv hörbar sein und von Deutscher Gebärdensprache begleitet werden. Weil nicht jeder Kirchentagsbesucher mental wie körperlich einem langen und anstrengenden Tag gewachsen ist, stehen Ruheräume für Erholungsbedürftige zur Verfügung. Geschulte Pflegekräfte sind zur Stelle, wenn Körperbehinderte Assistenz benötigen. Manche Ideen sind in ihrer Umsetzung einfach und zugleich plausibel. So bleibt im Café des Zentrums Kirchentag Barrierefrei an jedem Tisch ein Platz unbestuhlt, damit Rollstuhlfahrer problemlos Platz finden. Auf den Tischen werden riech- und tastbare Pflanzen stehen, um Blinde und Sehbehinderte sinnlich anzusprechen. Hinweise auf Toiletten werden nicht nur in Form von Piktogrammen zu sehen sein, sondern um fotorealistische Schilder ergänzt werden, so dass die bildliche Darstellung leichter zu verstehen ist.
Private Gastgeber gesucht
Noch nicht ganz auf der Zielgeraden ist man angelangt, was die Unterbringung von Teilnehmern mit Handicap betrifft. Hier rechnen die Organisatoren unter anderem mit weiterer Unterstützung aus der Bevölkerung. Traditionsgemäß finden auf Kirchentagen zahlreiche Besucher Quartier bei privaten Gastgebern. Da die Veranstaltungsorte auf das gesamte Stadtgebiet verteilt sind, spielen natürlich adäquate Transportmittel eine große Rolle. Unverhohlene Kritik übt in diesem Punkt die Behindertenbeauftragte der Stadt Stuttgart, Ursula Marx, an der Bahn AG. Während die Städtischen Verkehrsbetriebe SSB durchweg einen guten Standard in Sachen Barrierefreiheit aufwiesen, sei die Situation im von der Bahn verantworteten S-Bahn-Bereich durchaus defizitär. Neben nicht barrierefreien S-Bahnstationen seien vor allem defekte Rolltreppen und Aufzüge und sehr lange Reparaturzeiten ein Ärgernis.
Ein Transportmittel der besonderen Art wird demzugegen fraglos Blicke auf sich ziehen. Erstmals kommen auf dem Kirchentag Rikschas zum Einsatz. Die mit Muskelkraft betriebenen Fahrzeuge sind teilweise sogar so beschaffen, dass Rollstuhlfahrer mit ihnen befördert werden können. Damit setzt der Kirchentag ein vielleicht eher symbolisches, aber durchaus ernstzunehmendes Ausrufezeichen in Sachen Emissionsfreiheit und Nachhaltigkeit.
Die Organisatoren räumen ein, dass sie selbst noch Lernende sind, und dass fraglos alles noch ein bisschen besser gemacht werden könnte. Inklusion sei ein Ziel, aber eben auch ein Prozess, der wahrscheinlich nie abgeschlossen sein werde. Viele Ideen in Sachen Inklusion werden auf dem Kirchentag in Stuttgart zum ersten Mal ausprobiert werden. „Damit wir klug werden“ (Psalm 90,12) lautet das Motto der Veranstaltung. Nun – in jedem Fall werden die Organisatoren nach der Veranstaltung um einiges klüger sein, was die Praxistauglichkeit dieser Ideen angeht.
Weitere Infos zum Evangelischen Kirchentag in Stuttgart finden Sie hier.
Werner Pohl