Nach zehn Jahren im Sitzen einen ersten Schritt zu machen, ist eine aufregende Angelegenheit. Die Tagespresse, das geht aus vielen, immer gleichen Artikeln zum Thema hervor, ist ganz verliebt in die seit wenigen Jahren verfügbaren Hightech-Orthesen, mit denen Gelähmte wieder auf die Beine gebracht werden. Ich wollte wissen, was dran ist. Ein Selbstversuch.
Vor sechs Jahren unterstützte ich einen Journalistenkollegen bei einer Recherche über die damals gerade erst in der öffentlichen Wahrnehmung auftauchenden Exoskelette. Der Kollege war Fußgänger und wollte ein Statement aus der Perspektive eines Rollstuhlfahrers. Mein Urteil war eindeutig: Was soll der Unsinn? Da projizieren Fußgänger ihre Sehnsüchte in eine Sache hinein, die für uns Rollstuhlnutzer eigentlich gar kein echtes Thema ist. Das Hauptproblem ist doch nicht, nicht laufen zu können, sondern es sind die Begleiterscheinungen: Sensibilitätsausfälle, Druckstellen, Sorgen wegen der Funktion von Blase und Darm – kurz all die Probleme, die jedem Querschnittgelähmten vertraut sind, über die sich Fußgänger aber kaum je Gedanken machen. Außerdem, so argumentierte ich, mag es zwar nett sein, mal wieder in der Senkrechten zu sein, aber was soll eine Fortbewegungsart, bei der ich wegen der Krücken keine Hand frei habe, die langsam ist, und bei der mich jeder anstarrt, weil sie mit einem Riesenaufwand an Technik daherkommt. Im Rollstuhl, so war ich sicher, bin ich effizienter, schneller und rundum praktischer unterwegs.
Eine neue Perspektive
Auch heute, sechs Jahre danach, bin ich noch der Meinung, dass man im Rollstuhl hierzulande ganz gut durchs Leben kommt und bin eigentlich ein rundum glücklicher und zufriedener Mensch. Aber mein Beruf bringt es mit sich, dass ich alles, was für mobilitätseingeschränkte Menschen von Interesse sein könnte, ganz genau unter die Lupe nehme, wie das bei einem Fachjournalisten nun mal so ist.
Am 10. April sah ich deshalb, was ich noch nie gesehen hatte: meine eigene Wohnung, in die ich erst als Rollstuhlfahrer eingezogen war, aus der Perspektive eines stehenden, erwachsenen Menschen. Und mit einer Körpergröße von 1,87 m hat man ziemlich den Überblick. Ermöglicht wurde mir das durch ein Exoskelett von ReWalk, das ich ausprobierte, um mein seinerzeitiges Urteil auf die Probe zu stellen.
Merkwürdig einfach
Drei Mann hoch ist die ReWalk-Truppe angerückt. Ich werde vermessen, dann wird das mitgebrachte Exoskelett passend gemacht. Nachdem ich bereits auf etlichen Messen Läufer mit dem ReWalk gesehen und mich auch mit ihnen unterhalten hatte, ist es nun für mich so weit. Ich setze vom Rollstuhl „in“ das Gerät um und werde mittels Klettbändern mit der Apparatur verzurrt. Es folgen allerlei Anweisungen, und irgendwie ist mir ein wenig mulmig zumute. Aber dann ist alles merkwürdig einfach.
Mit den Unterarmgehstützen helfe ich der Apparatur, den Befehl „aufstehen“ umzusetzen, stemme mich empor und – stehe! Wackelig, einstweilen stabilisiere ich mich in der Senkrechten und genieße erst mal die gänzlich ungewohnte Perspektive, die vor meiner Zeit als Rollstuhlfahrer für mich völlig selbstverständlich gewesen war. Mit dem Exoskelett-unterstützten Laufen, das stelle ich kurz darauf fest, ist es wie mit so vielen Dingen im Leben: Schaut man jemandem zu, der die Übung beherrscht, sieht es ganz einfach aus. Macht man sich selbst an die Arbeit, ergeben sich allerlei Tücken.
Kommunikation zwischen Nutzer und Gehroboter
Wie vermutlich die meisten ReWalk-Novizen habe ich erst mal meine liebe Not, eine Fülle von ungewohnten Handlungen so zu koordinieren, dass ich nicht zu Fall komme. Per Funkarmband am Handgelenk wird das System aktiviert, und reagiert sodann auf Gewichtsverlagerung mit Einleitung der ersten Schrittsequenz. Erkennt das System Unstimmigkeiten, hält es an. Sowie die Kommunikation zwischen Nutzer und Gehroboter sich einigermaßen reibungslos eingespielt hat, kommt so etwas wie ein flüssiges Gangbild zustande, wobei die Unterarmgehstützen jeden Schritt nach vorne absichern. Nach vielleicht zehn Minuten und einigen etwas holperigen ersten Schritten schaffe ich es, einigermaßen problemlos ein Stück geradeaus zu laufen.
Schon ertappe ich mich bei einem Ausdruck, den ich aus der Betrachterperspektive nie verwendet hätte. „Mit einem Exoskelett geht man nicht, man wird allenfalls gegangen“ – war ich vor meinem Selbstversuch überzeugt gewesen. Nun musste ich erstaunt feststellen: Auch wenn ich in Jahren und Jahren logischerweise keinen eigenen Schritt mehr getan hatte, stellt sich bei mir spontan das Gefühl ein, ich ginge aus eigenem Antrieb. Ganz offensichtlich ist die ureigenste Art der menschlichen Fortbewegung so profund im Gehirn verankert, dass sie sofort wieder präsent ist, selbst wenn der Körper in diesem Modus bewegt wird, statt sich selbst zu bewegen. Diese unerwartete Entdeckung beschert mir vor allem eines: Spaß an der Sache und gespannte Erwartung auf die nächste Lektion. Aber bis zu der muss ich erst mal geraume Zeit warten, denn für die erste persönliche Begegnung mit der neuen Technologie habe ich schon ein ganz stolzes Pensum bewältigt. Genug für den Tag!
Und was sagen die Nachbarn?
Tatsächlich dauerte es gut drei Monate bis zur Fortsetzung des Experiments, aber Mitte Juli war es dann so weit: Die zweite Lektion stand an. Beim ersten „Schnuppern“ war es vor allen Dingen darauf angekommen, das Exoskelett richtig anzupassen, sicheres Stehen zu üben und schließlich ein paar Schritte zu laufen. Das hatte sich in meinen eigenen vier Wänden problemlos bewerkstelligen lassen.
Diesmal sollte es darum gehen, eine längere Strecke am Stück „zu Fuß“ zu bewältigen, deshalb entschlossen wir uns dazu, den Versuch ins Freie zu verlegen. So weit so gut. Ich wohne in einem Hochhausareal, dessen Verbindungswege zwischen Hausblöcken, Geschäften und Parkplätzen für einen solchen Versuch ideal geeignet sind – sogar überdacht, auch wenn Regen nicht zu befürchten war. Was mich an unserem „Versuchsaufbau“ besonders neugierig machte: Wie würden zufällig vorbeikommende Passanten und Nachbarn reagieren? Mein Wohnumfeld ist von sehr guten nachbarschaftlichen Beziehungen geprägt. Man kennt sich, und ich als Rollstuhlfahrer bin sowieso bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Niemand hat mich hier noch als Fußgänger erlebt.
Den persönlichen Datenspeicher abrufen
Die Anziehprozedur geht diesmal schneller vonstatten, weil alles schon richtig voreingestellt ist. Beim Aufstehen stelle ich fest, dass sich das beim ersten Mal Gelernte abrufen lässt. Mit dem Exoskelett umzugehen ist, scheint’s, ein bisschen wie Fahrradfahren lernen. Dann kommt es, wie es kommen muss: Ich ernte jede Menge erstaunte Blicke. Die Reaktionen sind durchweg positiv. Fußgänger mögen es einfach, wenn ein Rollstuhlfahrer „auf die Beine kommt“. Die einen bewundern das Exoskelett in seiner Eigenschaft als technisches Wunderwerk, andere finden einfach toll, dass der sonst rollstuhlfahrende Nachbar plötzlich einfach so da steht. Ein Jugendlicher zieht sein Handy heraus und fragt, ob er mich fotografieren dürfe. Aber das ist ja erst der Anfang.
Nun ist wieder Laufen angesagt, und diesmal tut sich weit und breit kein Hindernis auf, es kann also geradeaus losgehen. Aber schon beim zweiten Schritt bremst mich die Apparatur. Sie will einfach sicherstellen, dass ich mich „richtig“ bewege und in der Balance bin, um den nächsten Schritt einzuleiten. Zweiter Versuch, und diesmal klappt es – ein Schritt folgt auf den nächsten, langsam und beharrlich geht es vorwärts. Der mich begleitende Therapeut ermahnt mich freundlich, den Kopf hochzunehmen. Völlig klar, dass alle Probanden am Anfang auf ihre Füße starren.
Ich folge dem Rat, und sofort wird die Sache noch aufregender. Es ist gar nicht so schwer, die Füße „blind“ voreinander zu setzen und sich dabei nach vorne mit den Gehstützen abzusichern. Und man sieht, wer auf einen zukommt und wohin die Reise geht. Ich habe so an die dreißig Meter zurückgelegt, da kommt mein Türnachbar des Wegs. Erstaunt stelle ich fest, dass ich einen halben Kopf größer bin als er. Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht, denn logischerweise kenne ich ihn seit Jahr und Tag nur aus der Perspektive meines Sitzplatzes. Schließlich mache ich mich auf den Rückweg und erreiche wieder den Hocker neben meinem Rollstuhl, von dem aus ich gestartet war. Alles in allem bin ich vielleicht an die siebzig Meter gelaufen.
Siebzig spannende Meter
An und für sich sind siebzig Meter keine große Distanz, aber in Verbindung mit der Flut der Eindrücke und den vielen Dingen, auf die ich achten musste, fand ich den Spaziergang ziemlich aufregend und anstrengend. Gerade verschwindet die Apparatur im Kofferraum des ReWalk-Mitarbeiters, da laufen mir noch drei, vier Leute über den Weg, denen ich mich gerne stehend gezeigt hätte, und denen ich nun von meinem Experiment berichte. Ich bin mehr angeregt als erschöpft, mein Körper fühlt sich gut an – dieses Gefühl einem nicht Gelähmten zu beschreiben, ist allerdings ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, und vermutlich erlebt das auch jeder „ReWalker“ ein wenig anders.
Der Zufall will es, dass meine zweite Lektion einen Tag vor der Präsentation der neuesten Exoskelett-Generation von ReWalk stattgefunden hat. Tags darauf sehe ich auf der Website des Unternehmens den Release der Version 6.0, einer Weiterentwicklung des Modells, mit dem ich unterwegs gewesen war. Der Hersteller lobt die nun noch bessere Passform und das noch ein wenig zügigere Gehtempo. Außerdem kommt das neue Modell ohne den Rucksack aus, der bisher nötig war, um Elektronik und Stromversorgung zu verstauen.
Versuch macht klug
Hat der Selbstversuch meine ursprüngliche Einstellung zu dieser Art der Fortbewegung beeinflusst? Ganz klar ja! Ich hätte mir ohne die persönliche Erfahrung nicht vorstellen können, dass mir das Exoskelett tatsächlich ein ziemlich authentisches Gefühl vermittelt, selbst zu laufen. Das war ein Aha-Erlebnis, das mich nachhaltig beeindruckt hat. Andere Probanden berichten davon, wie schön es sei, ihren Mitmenschen einmal wieder „auf Augenhöhe“ zu begegnen. Das war für mich, nun sagen wir mal „interessant“, hatte aber nachrangige Bedeutung. Absolut positiv fand ich dagegen das Körpergefühl, das die ungewohnte Übung mir verlieh. Schon die ersten beiden kurzen Versuche vermittelten mir eine Ahnung davon, dass regelmäßige Fortbewegung in der Senkrechten sich vermutlich sehr förderlich auf meine Körperwahrnehmung auswirken dürfte.
Ich habe weiterhin Magengrummeln, wenn ich die Berichterstattung über „wieder laufende Gelähmte“ in der Presse verfolge. Nein, man wird mit einem Exoskelett nicht wieder zum Fußgänger. Aber schon beim derzeitigen Stand der Entwicklung bietet die neue Technologie Möglichkeiten für Betroffene, an die noch vor wenigen Jahren gar nicht zu denken gewesen wäre, und das sowohl unter therapeutischen, wie emotionalen, wie praktischen Aspekten. Schon jetzt ist abzusehen, dass elektronisch gesteuerte Orthesen künftig eine wesentliche Rolle für (Querschnitt-)Gelähmte spielen werden. Zunächst vielleicht noch vorrangig in therapeutischer Hinsicht, aber schon sehr bald auch im täglichen Leben.
Werner Pohl
Dieser Artikel erschien im RehaTreff (03/2015).Hier können Sie ein kostenloses Probeheft oder ein Abo bestellen (18 €/Jahr für vier Ausgaben) |