Exoskelett im Therapieeinsatz in Tübingen

IMG_2689
Pro Besuch in Tübingen macht Till mehr als 1200 Schritte.

Ob Stehbrett, Stehrollstuhl oder Barren – Rollstuhlfahrer zumindest zeitweilig in die Senkrechte zu bringen, war lange Zeit fester Bestandteil therapeutischer Konzepte. In jüngster Zeit bereichern sogenannte Exoskelette die Diskussion um Sinn und Nutzen dieses Vorgehens mit neuen Möglichkeiten. Ein Bericht aus der Praxis.

Till S. lebt in Freiburg, ist 21 Jahre jung und seit einem Autounfall vor zwei Jahren querschnittgelähmt. Jeden Mittwoch nimmt er die zweistündige Autofahrt von Freiburg nach Tübingen auf sich, um dort unter therapeutischer Anleitung mit einem Exoskelett zu trainieren. Seit etwas mehr als einem Jahr kommt in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen ein solches Gerät aus dem Hause Ekso Bionics zum Einsatz. Die Therapeuten waren rasch überzeugt von der Praxistauglichkeit des neuen Therapieinstruments. Es lässt sich mit überschaubarem Zeitaufwand exakt auf die Körpermaße des jeweiligen Probanden einstellen und ermöglicht effizientes Gehtraining, sowohl für komplett als auch inkomplett gelähmte Nutzer.

Bei inkomplett gelähmten Anwendern punktet das Gerät mit der Möglichkeit, den Grad der Unterstützung individuell einstellen zu können. Vorhandene Restfunktionen kann der Patient also einsetzen und trainieren, während die nicht mehr vorhandenen Funktionen durch das Exoskelett vollständig substituiert werden. Für Margit Schreiner, eine von mehreren Fachkräften des Hauses, die sich intensiv mit der neuen Technik auseinandergesetzt haben, ist das Produkt von Ekso Bionics derzeit die erste Wahl: „Es lässt sich exakt anpassen, und wir haben beim Einsatz dieses Exoskelettes, anders als bei anderen Produkten, keinerlei Probleme mit Druck- oder Scheuerstellen.“

IMG_2709
Auf dem Display der Gehmaschine lassen sich während des Betries alle relevanten Informationen abrufen.

Till ist bereits ein routinierter „Läufer“. Das vorab auf ihn justierte Exoskelett ist rasch angelegt, und nach einem kurzen Check aktiviert die Therapeutin die Aufstehfunktion. Den dabei verwendeten Gehrahmen tauscht er gegen Unterarmgehstützen, und in der folgenden Stunde wandert er, begleitet von einer weiteren Therapeutin, durch die Flure der Querschnittabteilung der Klinik, in der er als Stammgast ein vertrauter Anblick ist. Während die eine Therapeutin ihm nicht von der Seite weicht, sichert die andere den Ablauf der Übung hinter ihm, wobei sie zugleich das Exoskelett bedient und am Display überwacht.

Alle Parameter, die für ein dem normalen menschlichen Gang nachempfundenes Gangbild erforderlich sind, lassen sich justieren, so zum Beispiel die Schrittlänge, die Schritthöhe und die Geschwindigkeit. An verschiedenen Stellen eingebaute Sensoren liefern ihre Daten an die in einem Rucksack untergebrachte Recheneinheit der Gehmaschine, so dass auch während der Anwendung ständig eine Interaktion zwischen Nutzer und Exoskelett stattfindet. Nach einer Stunde ist das Training beendet. Die Software, die jede Aktivität des Gerätes aufzeichnet, hat mehr als 1200 Schritte registriert. Insgesamt hat das Gerät seit seiner Anschaffung im vergangenen Jahr bereits eine Laufleistung von mehr als 200.000 Schritten mit insgesamt 22 verschiedenen Anwendern absolviert.

Dr. Andreas Badke betrachtet den Einsatz des Exoskelettes von Ekso Bionics als sinnvolle zusätzliche Therapie-Option für viele seiner Patienten.
Dr. Andreas Badke betrachtet den Einsatz des Exoskelettes von Ekso Bionics als sinnvolle zusätzliche Therapie-Option für viele seiner Patienten.

Privat-Dozent Dr. Andreas Badke, Chefarzt der Abteilung für Querschnittgelähmte, technische Orthopädie und Wirbelsäulenchirurgie an der BG Klinik Tübingen, ist von den Optionen, die die neue Technologie mit sich bringt, sehr angetan, sieht deren Möglichkeiten aber realistisch. „Wir haben ein sehr heterogenes Patientengut, und die Behandlung von Querschnittgelähmten erfolgt multimodular. Mit dem Exoskelett haben wir quasi ein weiteres Modul in die Hand bekommen.“ Er führt weiter aus: „Die Idee der Vertikalisierung von Querschnittpatienten ist ja nicht neu. In unterschiedlichen Formen wird sie seit Jahrzehnten praktiziert, zum Beispiel mit Stehbrettern und Stehrollstühlen. Mit der Einführung von Exoskeletten in die Therapie erfährt dieser Gedanke nun einen neuen Impuls.“

Die Patienten selbst, befragt nach den Auswirkungen des „Gehens“ mit elektromechanischer Unterstützung, sind durchweg angetan von der Auswirkung des Trainings. Immer wieder wird vor allen Dingen von der Verbesserung der Blasen- und Darmfunktion berichtet, kürzeren Abführzeiten und einer deutlichen Verringerung an Blasen- und Harnwegsinfekten. Auch ein verbessertes Allgemeinbefinden wird als Argument für die Therapie ins Feld geführt.

Fakt ist dennoch, dass die Nutzer des neuen Therapiegerätes nicht selbst laufen, sondern „gegangen werden“. Gerade die Berichterstattung in der Tagespresse suggeriert fälschlicherweise, Querschnittgelähmte lernten mit diesem Hilfsmittel wieder zu gehen. Wie problematisch ist das für die Psyche möglicher Therapiekandidaten? Dazu Dr. Badke: „Unsere Patienten, auch die Neuzugänge, sehen ja, was auf der Station passiert. Sie sehen die Exoskelett-Läufer, deshalb können wir nicht gut so tun, als gäbe es diese Therapieoption nicht. Wir gehen sensibel mit unseren Patienten um und klären sie darüber auf, was diese Therapie leisten kann und was nicht. Wenn wir dann beim Entlassungsgespräch der Einschätzung sind, dass die Therapie mit dem Exoskelett im konkreten Fall sinnvoll ist, ziehen wir sie in Betracht, andernfalls nicht.“

Auf den Fluren der Abteilung Q sind die von Therapeutinnen begleiteten Exoskelett-Läufer ein vertrauter Anblick.
Auf den Fluren der Abteilung Q sind die von Therapeutinnen begleiteten Exoskelett-Läufer ein vertrauter Anblick.

Dass der Anblick von Nutzern, die diese Art der Fortbewegung routiniert anwenden, bei gleichfalls Betroffenen Begehrlichkeiten weckt, kann nicht verwundern. Das heißt aber keineswegs, dass jeder geeignete Kandidat auch tatsächlich auf Dauer von dieser Therapie begeistert ist. Dazu Margit Schreiner: „Manchen Anwendern ist der Aufwand zu hoch, und die Angelegenheit insgesamt zu technisch. Frauen kommen übrigens eher zu dieser Einschätzung als Männer.“

Belastbare Daten über die Langzeitauswirkungen des Exoskelett-Trainings gibt es derzeit noch nicht. Wie in anderen Kliniken auch wird also in Tübingen Pionierarbeit geleistet. Vernetzung und Informationsaustausch zwischen den Kliniken, die mit Exoskeletten arbeiten, sind gerade erst im Entstehen begriffen. Wird das neue technische Konzept auf absehbare Zeit auch im häuslichen Umfeld neue Perspektiven eröffnen? Dr. Badke warnt vor überzogenem Optimismus: „An den Geräten muss sich noch viel ändern. In Sachen Handling, Gewicht und Sicherheit sind noch erhebliche Fortschritte nötig. Wenn die einmal umgesetzt sind, könnten Exoskelette als Ergänzung zum Rollstuhl interessant werden.“

Werner Pohl

 

 

Dieser Artikel erschien im RehaTreff (04/2015).
Hier können Sie ein kostenloses Probeheft oder ein Abo bestellen (21 €/Jahr für vier Ausgaben)
RT_4_2015_Titel

Weitere Artikel

Letzte Beiträge