In der vergangenen Woche trafen auf Einladung des Aktionsbündnisses für bedarfsgerechte Hilfsmittelversorgung über 40 Gäste zu einem Parlamentarischen Frühstück im Bundestagsrestaurant zusammen: Schirmherrin Nezahat Baradari (MdB) begrüßte vor allem auch Familien mit ihren Kindern herzlich, die anwesenden Parlamentarierinnen und Parlamentaren und ihre Referentinnen und Referenten nutzten die Chance zu einem sehr persönlichen, direkten Austausch über die massiven Probleme bei Hilfsmittelversorgung, Kindermedizin, Pflege und inklusivem Schulleben. Die Gesundheitsexpertinnen und Gesundheitsexperten aller Parteien, deren Teilhabe- und Behindertenbeauftragte und Mitglieder des Gesundheitsausschusses konnten so engagiert mit den Familien diskutieren und deren Sorgen aus erster Hand erfahren.
Auch wenn es nur um eine kleine Gruppe von betroffenen Kindern und Jugendlichen geht, machen die dazugehörigen Geschwister, Angehörigen, alle Betreuerinnen und Betreuer und Experten eine große Gruppe von „Betroffenen“ aus.
Gesundheitsversorgungssstärkungsgesetz (GVSG) muss endlich Erleichterungen für die Familien umsetzen
Das neutrale Aktionsbündnis, entstanden aus der Petition der Familie Lechleuthner „Stoppt die Blockade der Krankenkassen bei der Versorgung von schwerstbehinderten Kindern/Erwachsenen“, hat in dreijähriger Arbeit konkrete Umsetzungsvorschläge erarbeitet, ein wichtiger Teil kann nun mit der anstehenden Umsetzung des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes realisiert werden.
Jetzt heißt es, den vorliegenden Gesetzesentwurf entschieden umzusetzen: Wenn in einem Sozialpädiatrischen Zentrum SPZ oder MZEB (Medizinisches Zentrum für erwachsene Menschen mit Behinderung) eine Hilfsmittelversorgung verordnet oder empfohlen wird, wird es keine Notwendigkeitsprüfung durch den Medizinischen Dienst mehr geben. Mit dieser Art „Genehmigungsfiktion“ wird es zu einer massiven Erleichterung für die jungen PatientInnen und deren Familien kommen.
Neben der Familie Lechleuthner äußerten sich auch Professor Rüdiger Krauspe, als langjähriger Kinderorthopäde, Dr. Mona Dreesmann als Leiterin eines SPZ, Brigitte Bührlen von der Stiftung „Wir – für pflegende Angehörige“ und Christiana Hennemann vom Verein rehaKIND zu den bestehenden Mißständen in der täglichen Praxis und im Lebensalltag der Familien.
Ohne Verbesserung der Versorgung werden bewusst Chancen vertan, denn Entwicklungszeitfenster für die Kinder schließen sich …
Ohne die Umsetzung der Veränderungen droht der Prozess der Hilfsmittelversorgung, so die Sorge der Eltern, auch weiterhin barrierereich zu bleiben, v.a. bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit komplexen Behinderungen und ebenso komplexen Hilfsmittelbedarfen. Hier werden Chancen auf Entwicklung, Teilhabe, Selbstbestimmung aktiv vertan, wenn sich durch verzögerte Genehmigungsprozesse Entwicklungszeitfenster schließen.
Die zum Teil gut ausgebildeten Eltern befinden sich in ständigem Kampf um die „Rechte ihrer Kinder“ und sind auch bei der Pflege allein gelassen, so können vor allem die Mütter oft nicht in ihren erlernten Berufen arbeiten. In Zeiten von Fachkräftemangel und mit Blick auf die Altersversorgung eine bedenkliche Entwicklung und zusätzliche Belastung.
Evaluation des GVSG wird zeigen, wie effizient die neuen Regelungen sind
Deshalb wird aufmerksam zu prüfen sein, ob die Ablehnungsquote und die Bearbeitungsdauern und -aufwendungen durch die geplante gesetzliche Regelung und gegebenenfalls andere ergriffene Maßnahmen sinken. Unzureichende ärztliche Verordnungen sowie Verordnungen, die nicht durch SPZ oder MZEB erstellt oder empfohlen werden, Widerspruchsverfahren, unterschiedliche Zuständigkeiten der Leistungsträger und viele mehr wird es weiterhin geben. Dadurch dürfen jedoch keine Verzögerungen entstehen, da diese bei Kindern und Jugendlichen die Entwicklung beeinträchtigen, einen wochen- oder monatelangen Ausschluss von Teilhabe an Bildung, Arbeit, oder sozialem Leben in allen Altersstufen bedeuten und die Selbstbestimmung gefährden können.
Konkret heißt es im Entwurf der Bundesregierung zum GVSG – Ergänzung des § 33 SGB SGB V um einen Absatz 5c: „(5c)
Die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels wird vermutet, wenn sich der Versicherte in einem sozialpädiatrischen Zentrum, das nach § 119 Absatz 1 ermächtigt wurde, oder in einem medizinischen Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen, das nach § 119c Absatz 1 ermächtigt wurde, in Behandlung befindet und die beantragte Hilfsmittelversorgung von dem dort tätigen behandelnden Arzt im Rahmen der Behandlung innerhalb der letzten drei Wochen vor der Antragstellung empfohlen worden ist.“
Diese Neuregelung einschließlich ihrer Begründung wird in dieser Form und mit diesen Formulierungen vom Aktionsbündnis ausdrücklich begrüßt und nachhaltig unterstützt.
Das Aktionsbündnis sieht darin einen wichtigen ersten Schritt zur Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur Hilfsmittelversorgungspetition (BT-Drucksache 20/8564, Pet 2-19-15-8271-041743). Es wird damit die Erwartung verbunden, dass dadurch der Versorgungsprozess erheblich vereinfacht und beschleunigt werden kann. Die Neuregelung soll zur Entlastung der Betroffenen, ihrer Familien und der am Versorgungsprozess Beteiligten führen und zur Entbürokratisierung beitragen. Wir sind überzeugt, dass die SPZ und MZEB sich ihrer mit der Änderung gestiegenen Verantwortung bewusst sind und den Prozess sachgerecht gestalten. Eine Evaluation wird zeigen, ob die Erwartungen erfüllt werden und ob weitere Änderungen, zum Beispiel die Anwendung dieser Neuregelung auch durch andere spezialisierte Teams erfolgen sollten. Petition gibt dem Bundestag noch zahlreiche weitere Regelungsaufgaben
Allerdings kommt es nun darauf an, dass auch die anderen Schritte der Hilfsmittelversorgung sachgerechter und zügiger erfolgen, indem auch die übrigen Empfehlungen aus dem BT-Beschluss lt. BT 20/8564 von den Beteiligten umgesetzt werden. Hierfür erbittet das Aktionsbündnis politische Unterstützung:
1. Begutachtungen durch den Medizinischen Dienst von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen müssen in anderen Versorgungsfällen (nicht SPZ) ausschließlich durch ÄrztInnen mit spezifischer fachlicher Qualifikation, z.B. in der Kinder- und Jugendmedizin oder Kinder-Orthopädie, durchgeführt werden. Eine sozialmedizinische Expertise allein ist keine ausreichende Qualifikation.
2. Hilfsmittelversorgungen sind zeitnah zu bearbeiten. Die Fristen nach § 13 Abs.3a SGB V, die z.Zt. allerdings ohne funktionierende Sanktionsbewehrung sind, auch bei Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich, sind zu beachten. Konkrete, verbindliche Fristen für Widerspruchsverfahren fehlen komplett und müssen zwingend ergänzt werden. Die Weiterleitung von Verordnungen bei Nichtzuständigkeit hat frist- und sachgerecht zu erfolgen und darf nicht zu Verzögerungen oder Ablehnungen führen. Das gilt auch für den Abstimmungsprozess zwischen Sanitätshaus (Leistungserbringer) und Krankenkasse.
3. Bei Hilfsmittelversorgung durch Krankenkassen muss die Förderung der Teilhabe umfassend sichergestellt werden. Hierzu bedarf es bei Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich einer qualifizierten ärztlichen Verordnung, die sich verstärkt am umfassend ermittelten Bedarf der Versicherten, d.h. auch an Alltags- und Teilhabezielen orientiert. (Beachtung der BSG-Rechtsprechung, siehe SGB IX).
4. Eine teilhabeorientierte Hilfsmittelversorgung ist dringend in den Curricula und in der Praxis der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe zu berücksichtigen.
5. Die Krankenkassen müssen ihre Bearbeitungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen und die Qualität der Bearbeitung verbessern. Transparenz über Vertragsinhalte muss hergestellt und Qualitätsstandards für die Leistungserbringung müssen gewährleistet sein und kontrolliert werden. Die Kennzahlen zu Antragstellung, Antragsgenehmigung und -ablehnung, Widerspruchsverfahren und Art der Verfahrensbeendigung müssen unter Berücksichtigung verschiedener Alters-, Diagnose- und Produktgruppen veröffentlicht werden.
Über den ersten, wichtigen Schritt durch Ergänzung des § 33 SGB V hinaus erwarten wir, dass die Bundesregierung aber auch die anderen Akteure alle aufgeführten Maßnahmen zeitnah umsetzen! Alle Barrieren, die einen transparenten, zügigen und bedarfsgerechten Versorgungsprozess behindern, beseitigt werden! Die SPZ in Deutschland sind zu stärken: durch eine bessere Finanzierung, die Möglichkeit der Behandlung der PatientInnen bis 21 Jahre … Sie stehen für eine der besten Versorgungsstrukturen im deutschen Gesundheitssystem und sind europäisches Vorbild für multidisziplinäre, umfassende Kinderversorgung.