Im Frühjahr flog ich das erste Mal auf einen anderen Kontinent und traute mich mit meinem Rollstuhl an das andere Ende der Welt, nach Down Under, Australien. Der Anlass war die Hochzeit meiner Freunde Nidhi und Thomas.Ihn habe ich vor acht Jahren im Rollstuhlsportverein in Hannover kennen gelernt. Er ist aufgrund seiner spastischen Lähmung zeitweise auf den Rolli angewiesen. Wie ich seine jetzige Ehefrau Nidhi kennen- und schätzen lernte und was die zwei in den letzten fünf Jahren zusammen erlebt haben, davon hat Nidhi mir erzählt.
Es ist Frühling in Deutschland. Ich mache mit meinen drei Töchtern Hanna (10), Sonja (7) und Lena (3) Urlaub bei meiner Oma in Misburg bei Hannover. Wir sind aus Australien, New South Wales, angereist. Zurückgelassen haben wir meinen Noch-Mann Michael. Ich brauche eine Auszeit, um mir über unsere Zukunft nach dem Scheitern meiner Ehe klar zu werden. Meine Tante und meine Schwester überreden mich, ins Brauhaus zum Tanz in den Mai mit zu kommen obwohl ich kein Discotyp bin. Wie sich später herausstellt, ein Discobesuch mit weit reichenden Folgen. Der Abend fängt langweilig an. Erst weit nach Mitternacht fallen mir zwei Rollstuhlfahrer auf der Tanzfläche auf. Sie sind fröhlich und ausgelassen. Ich kenne bislang keinen Menschen, der eine Behinderung hat und tanzende Rollifahrer habe ich noch nie gesehen. Ich bin beeindruckt, besonders von einem, Thomas.
Nach dem Tanz flitz ich, die sonst eher schüchterne Nidhi, Thomas hinterher und lade ihn zu einem Bier ein (und staune über mich selbst). Ich erzähl ihm von Australien und meinen 3 Kindern und traue mich nach seiner Telefonnummer zu fragen, die er mir bereitwillig gibt. Das war der Anfang von allem. Erst am nächsten Tag wird mir bewusst, dass Thomas nicht einmal sein Bier angerührt hat, es ist mir irgendwie peinlich. Ich versuche, ihn anzurufen. Nach einer Woche erreiche ich ihn endlich. Wir verabreden uns für das ALCAZAR, zusammen mit meiner Schwester und meiner Tante. Ich hole Thomas mit dem Bus ab. Hier erzählt er mir von seiner Behinderung. Sein Bier hat er am 1.Mai deshalb kaum angerührt, weil er vor mir nicht nach einem Strohhalm fragen wollte, den er beim Trinken benötigt. Der Abend im Alcazar ist schön. Die Tatsache, das Thomas im Rollstuhl sitzt, spielt für mich keine Rolle, im Gegenteil: Ich fühle mich sicher ihm gegenüber, ohne jegliche Berührungsängste, den Rolli nehme ich kaum wahr.
Am 14. Mai 2002 fliege ich mit den Kindern zurück nach Australien. Vorher sehe ich Thomas mehrmals und wir telefonieren stundenlang. In Australien angekommen, ist die Entscheidung völlig klar: Ich trenne mich endgültig von meinem Ehemann und ziehe mit meinen Kindern in ein kleines gemietetes Häuschen. Michael, mein Ehemann, lässt mich auf eine „Watchlist“ setzen, so dass ich mit den Kindern nicht mehr außer Landes reisen kann. Warum???
Ein Gericht in Coffs Harbour erlaubt mir schließlich, für einen festgesetzten Zeitraum die Kinder mit nach Deutschland zu nehmen. Mittlerweile ist es Dezember. Seit sieben Monaten mailen Thomas und ich uns täglich und führen stundenlange Telefonate. Es ist eine (intensive) Beziehung entstanden, trotz der großen Entfernung. Inzwischen habe ich auch eine Freundin von Thomas kennen gelernt – dich, Beate, via mail.
Im Dezember ist es dann endlich soweit, mit den Kindern fliege ich nach Deutschland zu Thomas. Meine Kinder mögen ihn sofort, ich bin erleichtert. Sylvester feiern wir alle zusammen in Deutschland. Erst wohnen wir bei meiner Oma, dann ziehen wir zu Thomas, in seine Singlewohnung. Inzwischen kann ich mir nicht mehr vorstellen, wieder nach Australien zurückzugehen. Am 20. Januar 2003 ist die bewilligte Frist des Gerichtes abgelaufen. Ein Anwalt, den ich aufsuche, versichert mir, dass es möglich sei, die Kinder legal hier in Deutschland zu behalten. Ich entscheide mich, mit meinen Kindern in Deutschland zu bleiben. Die beiden Großen haben sich bald in ihrer neuen Schule eingelebt und wir ziehen alle zusammen in eine größere Wohnung.
Wie ich später erfahre, stellt mein wütender Mann in Australien sofort einen Auslieferungsantrag, nachdem wir nicht pünktlich wieder in Australien angekommen sind. Der Brief vom Bundesgerichtshof erreicht mich erst ein halbes Jahr später, ich soll meine Kinder innerhalb von zwei Wochen ausliefern. Die diplomatische Post hat sich durch den Irak-Krieg extrem verzögert. Es kommt zur Gerichtsverhandlung in Deutschland, zu der mein Ehemann anreist. Ich werde schuldig gesprochen, meine Kinder entführt zu haben und soll diese sofort ausliefern. Der Rat des Anwaltes war leider nicht korrekt gewesen. Wir sind alle entsetzt und traurig, die Kinder wollen bei uns in Deutschland bleiben. Zum Wohle der Kinder empfiehlt uns die Richterin, Mediation in Anspruch zu nehmen. Mein Mann und ich treffen uns eine Woche lang jeden Tag zwei bis drei Stunden (pro Stunde zahlen wir 100,00 EURO würde ich weglassen, tut hier nix zur Sache) beim Mediator und erstellen einen Elternplan, der für mich nur ein erzwungener Kompromiss ist:
Im Sommer 2004 muss Johanna, meine Älteste, als eine Art Pfand zuerst zu ihrem Vater nach Australien, im Dezember 2004 sollen ihre Schwestern folgen. Thomas und ich begleiten die beiden Jüngeren nach Australien und kehren im Januar 2005 allein wieder nach Deutschland zurück. Der Abschied von meinen Kindern war sehr schmerzhaft und in Deutschland stürze ich mich in die Arbeit, um mich abzulenken. Wir mailen uns und telefonieren miteinander. Im April 2006 kommen die Kinder für knapp vier Wochen zu Besuch nach Deutschland. Wir freuen uns alle riesig, aber im Hinterkopf macht sich bereits früh der Gedanke an den erneuten Abschied breit. Die Trennung ist furchtbar. Zwischen uns liegen ca. 20.000 km. Das wollen wir alle so nicht noch mal erleben. Thomas und ich beschließen am 1. Mai 2006, unserem vierten Jahrestag, im kommenden Jahr zu heiraten und zeitnah nach Australien zu den Kindern auszuwandern. Die Kinder sind von dieser Idee begeistert.
Im Dezember 2006 fliege ich vorerst allein zu meinen Kindern nach Australien und lebe vier Monate bei meinen Freunden Warren und Gloria. Ich sehe die Kinder, so oft ich kann und bereite unsere Hochzeit vor. Im April kommt endlich Thomas…Und Beate mit ihrer Freundin Ali. Wir mieten in Lismore, New South Wales, ein rollstuhlfreundliches Haus und sind mit den Kindern dort zu siebt. Zusammen unternehmen wir viel. Wir fahren an die Küste von Byron Bay und Ballina. Byron Bay ist ein wunderschöner Ort und weist den östlichsten Punkt von Australien vor. Mit dem Rollstuhl gelangt man dank befestigter Promenade an den Strand und mit dem Auto zum Leuchtturm. Hier sehen wir Delfine und einen Wal. Aber auch Surfer, Touristen und Souvenirläden. Der Sonnenuntergang mit seiner Farbenvielfalt ist wunderschön und anders als in Deutschland.
Im Channon besuchen wir einen Markt. Es gibt sehr viele Märkte in Australien, auf denen man fast alles bekommt: Gemüse, Obst, Schmuck, Kleidung, Kunst, aber auch eine Massage oder den Spruch einer Wahrsagerin. Die Hochzeitsvorbereitungen laufen weiter auf Hochtouren und die Aufregung steigt. Nebenbei müssen wir uns um die alltäglichen Dinge wie Einkaufen, Kochen, Abwaschen und Rollstuhl reparieren kümmern. Wir leben momentan in einer Riesen- Wohngemeinschaft, jeder ist gefordert, aber wir haben auch viel Spaß. Mit zwei Autos fahren wir zu den Minyon Falls. Die Minyon Falls sind Wasserfälle in einem Regenwald gelegen. Es gibt ein befestigtes Plateau und extra Wege für Rollstuhlfahrer. Natur erleben- mit dem Rollstuhl- ist hier kein Problem.
Abends kochen wir zusammen. Am 14.April ist es soweit. Thomas und ich heiraten in St. Andrews in Lismore. Viele Freunde sind angereist, Beate und Ali extra aus Deutschland. Thomas ist aufgeregt, die Zeremonie findet in Englisch statt und er muss einige Sätze ins Mikrofon sprechen! Alan, sein Trauzeuge, macht ihm Mut. Warren begleitet mich in die Kirche und ich setze mich auf einen Stuhl neben Thomas. Johanna, meine Große, singt für uns „Hero“, Lena streut Blumen und Sonja trägt die Ringe.
Alles klappt wie geplant. In der Kirche unterschreiben wir und die Trauzeugen die Urkunde. Wir sind nun ein Ehepaar! Wer hätte das vor fünf Jahren gedacht? Im Anschluss an die kirchliche Trauung fahren wir mit 27 Gästen in ein rollstuhlgerechtes Cafe und genießen unseren Tag, bevor wir am Abend nach Brisbane fahren, um am nächsten Morgen für eine Woche zu Freunden nach Neuseeland zu fliegen. Honeymoon!
Am 21.4. sind wir zurück in Lismore.
Lismore befindet sich in New South Wales, liegt ca.180 km südlich von Brisbane und hat cirka 40000 Einwohner. Die Menschen hier sind offen und freundlich. Bei Woolworth oder Coles kaufen wir unsere Lebensmittel ein. Den Behindertenparkplatz in der Tiefgarage dürfen wir mit unserem europäischen Parkausweis nicht benutzen. Rollitoiletten sind vor Ort und die meisten Bürgersteige sind abgeschrägt. Die Kinder sind wieder bei uns und wir erkunden weiter die Gegend. Im Tucki Tucki Reservat sehen wir frei lebende Koalas. Etwas schläfrig, aber sehr putzig. Der Ort Nimbin ist eines unserer nächsten Ziele, von dort aus besuchen wir auch meine Freundin Anja.
Nimbin ist als Hippie-Ort bekannt. In den 68-ern kamen Menschen aus den verschiedensten Ländern, um auszusteigen und sich hier niederzulassen. Der Ort ist bunt, in den Geschäften gibt es viele selbst hergestellte Dinge zu kaufen, bemalte Steine und Schmuck genauso wie Kleidungsstücke aus Hanf. Haschisch gibt es ebenfalls zu erwerben, natürlich illegal. Anja wohnt sieben km entfernt von Nimbin, mitten im Busch, allein mit ihren Kindern. Angst hat sie nicht, ihnen ist bisher noch nichts Kriminelles widerfahren.
Direkt am Haus wachsen Bananenstauden und Ingwer. Der Blick von der Holzveranda in die Natur ist faszinierend. Um 17.30 Uhr wird es dunkel, es ist Herbst. Wir wollen gerade fahren, da tauchen aus dem Busch 3 Wallabies auf. Sie schauen uns genauso staunend an wie wir sie. Rollstuhlfahrer, das kennen sie anscheinend nicht. Es naht der Abschied von Beate und Ali. Wir fahren alle zusammen an die Gold Coast. Hier sind wir bereits in Queensland. Es gibt unendlich viele Hotels, Hochhäuser und den Massentourismus. Die Skyline erinnert an Miami, Amerika. Aber wir finden auch befestigte Promenaden und einen barrierefreien Weg an der Steilküste in einem Regenwald.
In einem Beach Club nehmen wir unser Abschiedsmahl ein, dann bringen wir Ali und Beate zum Zug, der sie nach Brisbane bringt. Mir und Thomas bleibt noch eine Woche, bevor wir uns von den Kindern verabschieden müssen, um vorerst wieder nach Deutschland zu fliegen und dort unsere Auswanderung zu organisieren. Als sich die Zugtür schließt, Thomas, Nidhi und die Kinder uns zuwinken, kommen mir die Tränen. Ich habe die Kinder sehr gern und es war schön, soviel Zeit mit Ihnen verbringen zu können. Wir werden uns sicher wieder sehen, aber wann? Die Entfernung ist groß…
In Brisbane bleiben Ali und ich noch zwei Tage in einem barrierefreien Hotel, um eine australische Großstadt kennen zu lernen. Fast zwei Millionen Einwohner, alte und moderne Architektur. Mit dem City Cat, einem barrierefreien Boot, erkunden wir die Stadt und fahren unter der bekannten Story Bridge hindurch. Alles kein Problem mit meinem Rolli, auch die Bordsteine sind abgeschrägt, wenn auch manchmal etwas steil, Rollitoiletten sind vorhanden, für Blinde gibt es an JEDER Ampel ein akustisches Signal, Taktile Leitstreifen befinden sich am Boden und die Info-Tafeln sind in Braille- Schrift. Ich bin begeistert, so etwas habe ich bisher in keiner anderen Stadt erlebt.
Am 30.April heißt es Auf Wiedersehen Australien. Quantas bringt uns über Singapur zurück nach Frankfurt, Deutschland. In Frankfurt angekommen, muss ich mich erst wieder daran gewöhnen, dass alle deutsch sprechen. In Australien habe ich meine Englischkenntnisse aufgefrischt, ein positiver Nebeneffekt. Die Barrierefreiheit hier lässt gegenüber Australien einiges zu wünschen übrig. Ideen für die Zukunft habe ich im Gepäck mitgebracht, denn das Thema Barrierefreiheit ist mein ständiger Begleiter- auch im Urlaub. Thomas und Nidhi sind ebenfalls wieder hier – ich bin gespannt, wie lange…