Am gestrigen Donnerstag startete die neue Staffel der Vorabendserie „Notruf Hafenkante“. Die Polizisten vom PK 21 und die Notärzte im nahegelegenen Elbkrankenhaus geben wieder alles, wenn es darum geht, große und kleine Straftaten aufzuklären und Menschen in Notlagen zu helfen. Neu mit dabei ist der Schauspieler Hardy Krüger jr., der den im Rollstuhl sitzenden Medizinischen Direktor Dr. David Lindberg spielt.
Bekannt wurde Hardy Krüger jr. durch seine Rolle in der Bühnenfassung des Kinofilms „Ziemlich beste Freunde“. „Das Angebot kam, nachdem man mich in den Kammerspielen gesehen hatte“, erzählt Krüger jr., Sohn des Schauspielers Hardy Krüger (87) dem STERN. Er nahm die Rolle an, stellte aber die Bedingung, dass alles sehr authentisch sein und nicht einfach ein Klischee bedienen sollte. „Durch die Erfahrung mit «Ziemlich beste Freunde» konnten wir eine Figur schaffen, die sehr nah an der Realität ist“, so Krüger weiter.
In deutschen Kino- und Fernsehfilmen werden Menschen mit Handicap meistens rührselig mit einer dicken Dosis Zuckerguss dargestellt oder als verbitterte Misanthropen, die mit ihrem Schicksal hadern. Ein ganz normales Alltagsleben wird ihnen selten ins Drehbuch geschrieben. Noch seltener stehen behinderte Schauspieler vor der Kamera.
Sie sitzen deprimiert in einem Pflegeheim und verfluchen ihr Schicksal oder vollbringen trotz ihres Handicaps fast übermenschliche Höchstleistungen. Nicht selten verhilft ein Außenstehender den Deprimierten zu neuem Lebensmut oder es wartet gar eine Wunderheilung. Nur eines sucht man bei der Darstellung von Filmfiguren mit Handicap – insbesondere Rollstuhlfahrern – meist vergeblich: Die Höhen und Tiefen einer Liebesbeziehung, Fragen rund um die Kindererziehung, Ärger im Job – eben den ganz normalen Alltagswahnsinn.
Im US-amerikanischen Film, insbesondere in Independent-Produktionen, ist man da schon weiter: In „Sunlight Jr.“ spielt Hollywood-Star Matt Dillon einen Rollifahrer, der mit seiner Freundin (Naomi Watts) in einem Motel lebt. Das Sozial-Drama von Regisseurin Laurie Collyer aus dem Jahr 2013 um ein Unterschichts-Pärchen, das ein Kind erwartet und obdachlos wird, ist schwer verdaulich. Das hat aber nichts mit dem von Dillon authentisch gespielten Rollstuhlfahrer zu tun, der den Alltag des sogenannten White-Trash-Amerikas lebt und ansonsten eine ganz normale Beziehung mit seiner Freundin hat. Die Ursache seiner Behinderung wird weder thematisiert, noch ist sein Handicap für ihn Anlass für Wut oder Selbstmitleid.
In der deutschen Film- und Fernsehlandschaft sucht man solche Protagonisten vergebens. Hier ist man verbittert wie in „Die Zeit, die man Leben nennt“ (2008, hoffnungsvoller Pianist landet im Rollstuhl), wächst über sich hinaus wie in „Gran Paradiso“ (2000, verbiesterter Rollifahrer bricht aus dem Pflegeheim zu einer Berg-Tour auf), lernt wieder laufen, wie in der Serie „Gute Zeiten schlechte Zeiten“ oder ist der gute, asexuelle Kumpel wie im „Marienhof“. Dass Filme und Serien von dramaturgisch möglichst spannend oder emotional konstruierten Konflikten leben, ist klar. Und es ist ebenso klar, dass ein Unfall oder eine schwere Krankheit einen dramatischen Einschnitt ins Leben bedeuten. Aber warum muss immer dieser Einschnitt dargestellt sein oder thematisiert werden?
Ganz langsam scheint sich im deutschen Film und Fernsehen doch etwas zu bewegen: Der im Februar ausgestrahlte TV-Film „Der Kotzbrocken“ mit Roeland Wiesnekker in der Hauptrolle kommt zwar auch nicht ohne Behindertenheim und das ein oder andere Klischee aus, geht für die beste Sendezeit am Freitagabend aber ungewöhnlich unverkrampft mit Themen wie Sex oder Kontinenz um.
Nun nahm in der ZDF-Serie „Notruf Hafenkante“ ein Arzt im Rollstuhl den Dienst auf. Der Schauspieler setzt sich bereits zum dritten Mal vor der Kamera oder auf der Bühne in den Rollstuhl. 1998 war er in dem TV-Drama „Zerschmetterte Träume“ zu sehen, 2013 kam das Angebot, Philippe Pozzo di Borgo in der Bühnen-Adaption des Kino-Erfolgs „Ziemlich beste Freunde“ zu spielen. „Es ist eine immens große Herausforderung, auf der Bühne etwas zu spielen und sich dabei nicht zu bewegen. Zur Vorbereitung habe ich mich mit Leuten getroffen, die eine ähnliche Behinderung haben und einen Elektrorollstuhl fahren. Ich habe auf der Bühne die Erfahrung gemacht, dass der E-Rolli des Öfteren mal ausfällt – auch in der Premiere. Ich frage mich, was ein Behinderter macht, wenn das im Straßenverkehr passiert? Wir gehen so selbstverständlich mit allem um.
Ich bin dankbar, dass ich mich selber da kratzen kann, wo es juckt“, resümiert Hardy Krüger Jr. „Die Haltung von Philippe (Pozzo di Borgo) hat mich fasziniert und inspiriert. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man in einer solchen Situation noch so viel Humor haben kann.“ Es ist erfreulich, wenn Schauspieler und Filmemacher Behinderten für die Entwicklung ihrer Figuren nahe kommen. In dem Erstaunen über den noch vorhandenen Humor schwingt aber noch der Kern des Problems mit, der vor der Kamera sichtbar wird: Ein ganz normales Leben kann man mit einem solchen Schicksal doch eigentlich nicht führen.
In „Notruf Hafenkante“ spielt Krüger Jr. den Rechtsmediziner David Lindberg, der sich bei einem Unfall eine Querschnittlähmung zuzieht und eine Stelle als ärztlicher Direktor in einem Hamburger Krankenhaus antritt. „Er war vor seinem Unfall ein Sunnyboy, liebte das Leben, schnelle Autos und seinen Job. Danach steht er im Konflikt mit seiner Wut, mischt sich in Operationen ein und vermisst die Arbeit als Arzt. Mit seinem Sarkasmus und seinen Witzen können seine Mitarbeiter nicht gut umgehen“, charakterisiert Krüger Jr. seine Figur. Zu einer Krankenhausserie gehört natürlich auch Herzschmerz: „Auch das Liebesleben von Dr. Lindberg, und wie seine Behinderung die emotionale Situation beeinflusst, wird thematisiert. Ich möchte die Rolle mit allen Ebenen spielen und die Thematik sensibel anfassen und erzählen. Notruf Hafenkante ist die richtige Plattform, um viele Menschen mit dem Thema zu konfrontieren.“
Das Autoren- und Produktions-Team der Serie hat für die Entwicklung der Figur David Lindberg Gespräche mit Betroffenen geführt und deren Erfahrungen in das Drehbuch eingebaut. Eine Reduzierung auf die Behinderung solle es aber nicht geben: „Wir wollen David Lindberg in erster Linie als interessanten Menschen zeigen. Sein Handicap werden wir dabei aber nicht ausblenden, sondern bewusst in Situationen thematisieren, wo die Behinderung etwas ausmacht oder bewirkt. Wenn wir zeigen, wie er mit seiner Einschränkung umgeht, Hindernisse überwindet oder Vorurteilen begegnet, nehmen wir auch ihn mit seinem Handicap ernst“, so Drehbuchautor Jochim Scherf. „Menschen mit Behinderung sind noch nicht so integriert, wie sie es sein sollten“, findet Schauspieler Hardy Krüger Jr.
Authentizität nur mit echtem Handicap?
Inklusion ist aber, wenn man es nicht merkt – Im besten aller Film- und Fernsehfälle sollte also eine Figur im Rollstuhl vor der Kamera agieren, ohne zu thematisieren, dass sie im Rollstuhl sitzt. Tipps und Denkanstöße finden Medienschaffende in dem Leitfaden „Auf Augenhöhe“, den die Bundesregierung zur Darstellung von Menschen mit Behinderung herausgegeben hat. Hier findet sich auch der Ratschlag, für eine glaubwürdige Darstellung Schauspieler mit Behinderung zu besetzen. Abgesehen davon, dass – wie in allen Berufsgruppen – auch Schauspieler mit Handicap eine Selbstverständlichkeit sein sollten, ist doch fraglich, ob mit dieser Forderung nicht der Beruf des Schauspielers konterkariert wird. Denn dieser verkörpert ja per definitionem eine andere Person. Tetraplegiker Samuel Koch, einer der wenigen behinderten Schauspieler mit Abschluss einer staatlichen Schauspielschule, sagte jüngst der Süddeutschen Zeitung in einem Interview, dass er die Rolle des Philippe in „Ziemlich beste Freunde“ abgelehnt hätte. Mit dem Staatstheater Darmstadt, zu dessen Ensemble er gehört, hat Koch vereinbart, nicht auf Opferrollen festgelegt zu werden, sondern genauso den Hamlet zu spielen. „Im Idealfall vergisst der Zuschauer, dass ich eigentlich gelähmt bin“, so Koch in dem Interview. „Sollte es nicht grundsätzlich um die bestmögliche Verkörperung einer Figur, eines Charakters gehen? Dann soll auch derjenige die Rolle spielen, der das am besten kann – gleichgültig, ob er im richtigen Leben im Rollstuhl sitzt oder nicht“, findet Drehbuchautor Jochim Scherf. Für eine solche Konkurrenzsituation zwischen den Bewerbern müssen aber erst einmal genügend talentierte Akteure mit Handicap zur Verfügung stehen – und die Schauspielschulen ihre Zulassungsvoraussetzungen ändern.
Miriam Flüß/AWS