Vor gerade einmal zwei Jahren beginnt Jule Roß mit der Para Leichtathletik – nun steht sie vor ihrer ersten Teilnahme an den Paralympics. Die Entwicklung der 18-jährigen Sprinterin, die ursprünglich nie den Plan hatte, im Leistungssport aktiv zu sein, ist bewundernswert.
Im Jahr 2022 entdeckte Jule Roß den Para Sport – ausgelöst durch einen Instagram-Post über eine Sportveranstaltung des TSV Bayer 04 Leverkusen. Ohne Vorerfahrungen in der Para Leichtathletik meldete sich die Schülerin zu einem Probetraining an. Denn ihre Sehnsucht nach einem Sport, der sie erfüllt, war durchaus groß. Mit sieben Jahren hatte die Bergisch Gladbacherin, der von Geburt an der rechte Unterarm fehlt, bereits die olympische Leichtathletik ausgeübt, stieg jedoch nach wenigen Jahren auf Tennis um. „Besonders im Schulsport habe ich aber nach und nach gemerkt, wie sehr ich die Leichtathletik vermisst habe“, sagt Roß rückblickend – und startete den zweiten Anlauf, diesmal im Para Sport.
Glücklicherweise ist die Trainingsstätte der Leverkusener Leichtathleten nur wenige Kilometer von ihrem Heimatort entfernt. Bereits nach der ersten Probeeinheit hat Roß gespürt, dass die Para Leichtathletik ihre neue Leidenschaft wird. „Ich wurde mit offenen Armen empfangen und habe mich sofort wohlgefühlt“, erinnert sich Roß, die mittlerweile in den Disziplinen 400, 200 sowie 100 Meter und im Weitsprung an den Start geht. Heute, etwa zwei Jahre später, bezeichnet sie diesen Schritt als die beste Entscheidung ihres Lebens.
Der Para Sport hat Jule Roß geholfen, selbstbewusster zu werden. „Zuvor hatte ich nie Kontakt mit anderen Menschen mit Behinderungen. Ich dachte immer, ich bin die Einzige und hatte teilweise dieses ‚Warum ich?‘-Gefühl. In Leverkusen habe ich Freunde gefunden, die teilweise das gleiche haben wie ich“, sagt Roß. Die Zeit in Leverkusen und der Kontakt zu Gleichgesinnten helfen ihr sehr, mit ihrer eigenen Behinderung umzugehen.
Angefangen hat es in einer Breitensportgruppe, inzwischen trainiert Jule Roß mit den Spitzensportler*innen des TSV Bayer 04 Leverkusen wie zum Beispiel Sprinter Johannes Floors. Als junge Athletin profitiert sie sehr vom engen Austausch, besonders von den Tipps der erfahrenen Athlet*innen. Ihre kontinuierlichen und schnellen Verbesserungen zeigen deutlich, dass der Weg in den Leistungssport der richtige ist.
Der erste internationale Einsatz auf Top-Niveau kam für die damals 17-Jährige hingegen überraschend. „Etwa sechs Wochen vor der WM in Paris im vergangenen Jahr habe ich erfahren, dass ich mitfahren darf. Da war dann nicht mehr viel mit Vorbereitung“, blickt Roß zurück. Bei der WM sammelte sie nicht nur Erfahrungen, sondern verbesserte zugleich ihre persönlichen Bestleistungen. Auch in diesem Jahr durfte Roß für das deutsche Team bei der Para Leichtathletik-WM in Kobe antreten. Ihre Erwartungen wurden dabei allerdings bei weitem übertroffen. Denn Jule Roß blieb nicht nur deutlich unter ihrem persönlichen Ziel von 60 Sekunden. Darüber hinaus knackte sie auch den deutschen Rekord über die 400 Meter, der seit den Paralympics 1988 in Seoul Bestand hatte – und dass, obwohl sie erst frisch in dieser Disziplin dabei ist. Platz vier bei den Weltmeisterschaften, dazu die Paralympics-Norm abgehakt und ein großes Lob von Bundestrainerin Marion Peters, die sie als „Entdeckung der WM“ bezeichnete – viel mehr geht nicht.
„Wenn man so etwas liest, ist es natürlich schön und auch eine Wertschätzung für junge Athleten wie mich“, sagt sie und fügt an: „Ich wurde eigentlich nur mitgenommen, um etwas zu lernen – die WM-Norm hatte ich nicht. Wenn man dann so gute Leistungen abrufen kann, zeigt das, dass sich die Mitnahme gelohnt hat. Das ist ein tolles Gefühl!“ Die Stimmung bei der WM in Kobe war für die 18-Jährige sehr besonders, zwar ungewohnt, aber auch beflügelnd. Während die vollen Ränge Roß in ihren Sprintdisziplinen pushen, bevorzugt sie beim Weitsprung eine etwas ruhigere Atmosphäre, um sich in ihre Gedanken zu vertiefen: „Da bin ich nicht der Typ, der zum Klatschen animiert, was ja viele mögen“, berichtet sie.
Die guten Leistungen bei der WM und die rasante Entwicklung der vergangenen beiden Jahre haben der Sportlerin sogar die Nominierung zu den bevorstehenden Paralympics in Paris ermöglicht. Antreten wird sie in allen vier Disziplinen, die sie ausübt. „Mein Fokus liegt auf den 400 Meter. Das ist meine beste Disziplin und ich habe dabei die höchsten Chancen, möglichst weit zu kommen. Alles andere ist zum Lernen“, sagt die junge Para Leichtathletin der Startklasse T46. Schon am zweiten Wettkampftag am Freitag, 30. August, ist es so weit: Um 19 Uhr läuft Jule Roß im Stade de France auf und beginnt ihre Paralympics-Karriere in ihrer Paradedisziplin. Für das Leverkusener Talent ist es schon großartig überhaupt dabei zu sein. Dementsprechend formuliert sie ihre Ziele für Paris zurückhaltend: „Ich möchte vor allem Spaß haben, jeden Moment genießen und alles aufsaugen, was geht“, sagt Roß, um dann zu ergänzen: „Mein Traum wäre natürlich, dass ich es in ein paralympisches Finale schaffe.“
Druck macht sich Jule Roß bei ihrer Premiere jedoch keinen. „Natürlich habe ich bestimmte Erwartungen an mich selbst, aber ich denke, das ist normal. Ich habe noch so viele Jahre vor mir. Aktuell sehe ich alles, was passiert, als absoluten Gewinn“, sagt die Sprinterin, die insbesondere von ihrer Familie große Unterstützung erhält. „Ohne meine Eltern wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. Es klingt vielleicht kitschig, aber ich würde sie schon als meine Vorbilder bezeichnen“, so Roß. Neben ihren Eltern werden auch weitere Familienmitglieder und Freunde nach Paris reisen und die 18-Jährige anfeuern. „Ich freue mich besonders auf das Stadion und die Stimmung während der Wettkämpfe, aber auch auf das Dorf und das Zusammensein mit den anderen Athlet*innen und Nationen“, betont die 18-jährige. Nachdem sie das vergangene WM-Feeling zu Bestleistungen beflügelte, hofft sie, in Paris daran anzuknüpfen.
In ihrer noch jungen Karriere erlebt Roß aktuell eine sehr aufregende Zeit. „Das gesamte aktuelle Jahr ist ein großes Highlight für mich. Ich habe Abitur gemacht und dadurch gerade viel Freizeit. Dazu die WM-Teilnahme mit der Norm, die ich geschafft habe, und die kommende erste Teilnahme an den Paralympics – ich bin für alles sehr dankbar“, erklärt die angehende Lehramtsstudentin der Fächer Geografie und Sozialwissenschaften. Der Wunsch für die Zukunft: „Ich will vor allem glücklich sein und viele Länder bereisen. Das klappt mit dem Sport aktuell schonmal sehr gut“, sagt Roß lachend. Und eine Reise nach Paris lohnt sich in diesem Spätsommer ganz besonders. Doch das soll nur das erste Highlight sein der bisherigen Bilderbuch-Karriere von Jule Roß.
Text: Maxine Herweg/DBS
Foto: Gate3 Photo Agency/Marcus Hartmann