Kinästhetischer Knietransfer für Querschnittpatienten

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Umsetzen vom Bett in den Rollstuhl und umgekehrt – mit einem frisch verheilten Dekubitus beispielsweise ist das für Patient und Pfleger eine heikle Angelegenheit. Eine interessante Variante, um dies sicher zu bewerkstelligen, ist der Knietransfer gemäß dem Kinästhetics-Konzeptsystem Maietta-Hatch (M-H).

Im vergangenen halben Jahr musste ich wegen eines Sitzgeschwürs längere Zeit auf der Querschnittstation eines Rehabilitationskrankenhauses verbringen. Den größten Teil dieser Zeit war ich zum Liegen verdonnert, Sitzen wurde erst gegen Schluss erlaubt, als das Geschwür von einer belastbaren Haut bedeckt war.

Die Pflege litt während dieser ganzen Zeit – wie heutzutage an vielen Krankenhäusern üblich – unter Personalmangel; das bekamen wir Patienten oft genug zu hören. Eine Konsequenz daraus war, dass Pfleger und Schwestern sowie Pflegeschüler und -schülerinnen sehr häufig wechselten. Ich lag in einem Dreibettzimmer, und es gab auch bei meinen Zimmergenossen allerhand Wechsel. So hatte ich Gelegenheit, ganz unterschiedliche Pflegesituationen miterleben zu können, bevor ich sie auch an mir selbst erfuhr.

Die jüngeren Pflegekräfte arbeiteten alle nach den Prinzipien der „Kinästhetik“, einer Pflegephilosophie, die seit den 1970er Jahren von zwei Amerikanern, Frank Hatch und Lenny Maietta, für „Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten“ stetig weiter ausgearbeitet wurde. Das Wort „Kinästhetik“ ist gebildet aus den altgriechischen Worten „kineo“, zu Deutsch „ich bewege“, und „aisthesis“, übersetzt „das Gespür“. Die Ästhetik hat hier nicht den sonst im Deutschen üblichen Bezug zum „guten Geschmack“, sondern damit gemeint ist, wie eine Pflegeperson ihren eigenen Körper spüren und schonen sollte, wenn sie einen Patienten bewegt, etwa hinlegt, aufstellt oder umsetzt.

Die kinästhetischen Prinzipien spielen inzwischen bei der Ausbildung der Pflegekräfte in Deutschland eine große Rolle. Ihre praktische Umsetzung lässt sich jedoch aus einem von Hatch und Maietta selbst verfassten Lehrbuch (Kinästhetik, Elsevier Verlag, 2003) m.E. nicht leicht herausdestillieren. Auch der entsprechende Artikel in Wikipedia ist schwer verständlich. Man muss die Techniken vorgeführt bekommen und sie dann durch viel aufmerksame Übung selber erlernen („learning by doing“). Das war das Wesentliche, was ich von meinen Pflegern und Schwestern dazu erfahren konnte. Ein ganz wichtiges Lernziel sei es, bei der Bewegung des Patienten die eigenen Kräfte so raffiniert einzusetzen, dass keine Überlastung des eigenen Körpers auftrete.

Bei vielen „Konzepten“ müssen Pflegender und Patient einen gemeinsamen Schwerpunkt finden, den sie zusammen verlagern. So beugt der Pflegende einer Beschädigung des eigenen Rückgrats vor, so vermeidet er die vorzeitige Invalidisierung.

Am Eindrucksvollsten fand ich persönlich den sog. Knietransfer, das Umsetzen eines Querschnittpatienten vom Bett in den Rollstuhl und umgekehrt. Dieses Manöver möchte ich nun als ein Beispiel beschreiben, dabei allerdings betonen, dass es nur ein Detail des viel umfassenderen „Konzeptsystems“ der Kinästhetik darstellt.

Zuerst konnte ich den Knietransfer täglich bei einem Bettnachbarn ausgeführt sehen, wobei es gelegentlich eine wirklich schmächtige junge Frau war, die den durchaus kräftig gebauten Mann – schwuppdiwupp – ohne Anstrengung umsetzte. Das Manöver beginnt damit, dass der Patient einige Minuten aufrecht an der Bettkante sitzt. Der Pflegende setzt sich neben ihn und stellt einen seiner Füße zwischen die vorderen Rollen des parallel zum Bett stehenden, gebremsten Rollstuhls; dann nimmt er beide Patientenknie zwischen seine Beine. Jetzt legt der Patient Oberkörper und beide Arme über die ihm abgewandte Schulter des Pflegenden (also z.B. seine linke Achsel über dessen linke Schulter). Der Pflegende verlagert nun das Gewicht des Patienten auf sein Knie und rutscht durch mehrere Gewichtsverlagerungen des „Doppelpacks“ auf den Rollstuhl zu, bis er den Patienten nach einer Drehung dort sanft absetzen kann (M-H Fachjargon: Eine Serie von parallelen Bewegungsmustern endet mit einem spiraligen Bewegungsmuster!).

Später war ich dann selbst so weit, dass ich umgesetzt werden durfte. Am Anfang hatte ich fürchterliche Angst, denn der Patient darf sich nirgends festhalten. Seine Arme baumeln über der Schulter des Transferierenden, sein Kopf schaut nach unten. Meine im Titel gemachte Anspielung aufs Drachenfliegen beschreibt diesen Moment, in dem man über dem Abgrund schwebt. Man muss Vertrauen haben. Sonst muss man (genauer gesagt: darf man) gar nichts machen. Wer das verinnerlicht hat, der kann den kurzen Flug geradezu genießen. Das Manöver endet damit, dass der Hintern sanft im Rollstuhl abgesetzt wird. Die Pflegeperson hat dabei ihr eigenes Kreuz wirklich geschont.

RR

Lenny Maietta, Frank Hatch

Kinaesthetics Bildungssystem

Teil 1: Das Kinaesthetics Konzeptsystem

info@kinaesthetics-deutschland.com

Fink GmbH, Druck und Verlag, DE- Pfullingen

4. Auflage 2013

ISBN-13: 978-0-9823433-4-0

 

Dieser Artikel erschien im RehaTreff (03/2016).
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