Mit dem Rollstuhl durch Paris

Paris ist mir wohlvertraut, oder sollte ich sagen: war mir wohlvertraut? Ich bin zum ersten Mal als Rollstuhlfahrer in der französischen Hauptstadt unterwegs.

Ich war lange nicht mehr hier, und es hat sich etwas verändert in dieser Stadt. An ausgestreckten Armen tragen die Menschen Tablet-PCs von beeindruckenden Ausmaßen vor sich her und filmen ihre Umgebung. Wo sich vordem vor allem asiatische Touristen artig aufstellten und gegenseitig fotografierten, nimmt nun jeder die Sache selbst in die Hand und blickt verzückt in das vom Körper weggestreckte Smartphone, um sich vor der Sehenswürdigkeit im Hintergrund abzulichten.

Paris 1
Das ganz eigene Flair der französischen Hauptstadt lockt Jahr für Jahr Millionen Besucher an die Seine.

Ein Pärchen schiebt sich ohne Blick für die Umgebung durch das Gedränge, die Augen fest auf den an einem Teleskopstab vor sich hergetragenen Bildschirm geheftet. Jemand rempelt mich an und löst verstört den Blick von dem Navigationsgerät, das seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Adieu Fotoapparat – willkommen im Zeitalter der elektronischen Medien. Ort des Geschehens ist das Zentrum von Paris, genauer gesagt der Platz mit dem Nullpunkt, von dem aus alle Straßenentfernungen Frankreichs gemessen werden. An der Ostseite dieses Platzes streben die Türme der Cathédrale Notre Dame in den an diesem Tag tiefblauen Septemberhimmel. Das im Jahre 1345 fertiggestellte Bauwerk ist mit weit über 30.000 Besuchern täglich die vermutlich meistbesuchte Sehenswürdigkeit von Paris.

Für Fußgänger nicht der Rede wert, für Rollstuhlfahrer kräftezehrend: die „hügeligen“ Zebrastreifen.
Für Fußgänger nicht der Rede wert, für Rollstuhlfahrer kräftezehrend: die „hügeligen“ Zebrastreifen.

Es ist nicht der weltberühmte gotische Bau, der mich auf diesen Platz gelockt hat. Ich bin eher zufällig hierher geraten, weil meine Unterkunft gleich um die Ecke liegt und ich am Tag unserer Ankunft noch ein wenig an der Seine entlangbummeln möchte. Ich kenne Paris von zig Besuchen, und dennoch sah ich dieser Reise mit Spannung entgegen, denn ich bin zum ersten Mal mit dem Rollstuhl in der Stadt unterwegs.

Die Unternehmung begann mit der erfreulichen Entdeckung, dass im französischen TGV, der uns in gerade einmal dreieinhalb Stunden von Stuttgart nach Paris beförderte, das Problem des Ein- und Aussteigens für Rollstuhlfahrer ungleich eleganter gelöst ist als beim deutschen Pendant, dem ICE. Statt mit vorsintflutlicher Hebebühne eingespeist zu werden, rollte ich nahezu schwellenlos in den zweistöckigen Waggon, und wurde von dort mit einem eingebauten Lift auf das Niveau der unteren Ebene abgesenkt, wo sich die Rollstuhlstellplätze befinden. Mit den zahlreicher werdenden Schnellbahnverbindungen ist eine veritable Alternative zum Flugzeug als Transportmittel entstanden, zumal man nach Ankunft am Gare de l’Est sofort ins Stadtgewühl eintauchen kann, während ankommenden Fluggästen erst noch ein umständlicher Transfer von Roissy oder Orly ins Stadtzentrum bevorsteht.

Vorbei die Zeiten, in denen ich mich mit der Metro bequem von A nach B bewegen konnte. Das in seinen Grundstrukturen im 19. Jahrhundert geplante und angelegte Massentransportmittel Nummer eins der Pariser ist bis auf wenige Ausnahmen für Rollstuhlnutzer untauglich. Aber dafür sind unterdessen sämtliche Busse mit Rampen ausgerüstet und die weitaus meisten Bushaltestellen barrierefrei angelegt. Allerdings ist das Busnetz ungleich komplizierter als der Metroplan. Es empfiehlt sich also, die Materie vorab ein wenig zu studieren. Wir nutzten den Bus nur für den Transfer zum Hotel. In den folgenden Tagen streifen wir aus eigener Kraft umher.

)) Leider nicht barrierefrei: Die wenigsten Metrostationen sind für Rollstuhlfahrer nutzbar.
Leider nicht barrierefrei: Die wenigsten Metrostationen sind für Rollstuhlfahrer nutzbar.

Weil uns die Stadt aus touristischer Sicht wohlvertraut ist, richten wir unser Augenmerk nicht so sehr auf die typischen Sehenswürdigkeiten. Und weil – blindes Glück – der Hochsommer beschlossen hat, mit strahlendem Sonnenschein und Temperaturen von weit über zwanzig Grad bis tief in die Nacht hinein im September noch einmal eine Spätvorstellung zu geben, schämen wir uns auch nicht eines vorsätzlichen Kulturbanausentums: Wir machen diesmal einen großen Bogen um Ausstellungen und Museen, und genießen statt dessen das bunte und vielfältige Leben der Metropole unter freiem Himmel – winklige Gassen und große Boulevards, verträumte Plätze und traditionsreiche Parks: Wir lassen uns treiben. Das ist ein Luxus, den man sich freilich nur leisten sollte, wenn man gewillt ist, der Stadt an der Seine häufiger einen Besuch abzustatten, denn das Kulturangebot ist gigantisch und in mancherlei Hinsicht weltweit einzigartig.

Auch wenn nicht alles machbar ist – an vielen Stellen ist für Zugänglichkeit gesorgt.
Auch wenn nicht alles machbar ist – an vielen Stellen ist für Zugänglichkeit gesorgt.

So oder so ist es unmöglich, dem touristischen Paris zu entkommen, nicht zuletzt, weil die weltberühmten Bauwerke und Institutionen wie eben Notre Dame oder Tour Eiffel, Panthéon, Hotel des Invalides, Arc de Triomphe, Centre Georges Pompidou, Louvre, Sacré Coeur, um nur einige wenige zu nennen, quasi an jeder Straßenecke zu finden und dicht über das Stadtgebiet verteilt sind. Aber warum sollte man auch – sie machen viel vom Reiz der Stadt aus, sind unausweichlich aber auch allesamt Rummelplätze mit abenteuerlichem Nepp und Kitsch. Wer schamlos überteuerte Speisen und Getränke genießen will, tut das am besten in Straßencafés mit Blick auf die großen Touristenmagneten. Wer für die gleiche oder bessere Qualität deutlich weniger Geld aufwenden will, bummelt zwei, drei Straßenzüge weiter und lässt sich etwas abseits vom Trubel nieder. Wer partout mit knappem Budget haushalten will oder muss, findet vor allem in ethnisch geprägten Vierteln kulinarische Vielfalt zu erschwinglichen Preisen.

Im Großen und Ganzen ist Paris rollstuhltauglich. Vielerorts sind die breiten Gehsteige asphaltiert oder mit großformatigen Platten gepflastert und somit gut zu berollen, und Kopfsteinpflaster ist eben Kopfsteinpflaster, egal wo. Dass die Übersetzung von Montmartre „Berg der Märtyrer“ lautet, und, was den Berg betrifft, wörtlich zu nehmen ist, merkt, wer den Ehrgeiz hat, die Sacré Coeur aus eigener Kraft zu erreichen. Meist sind Steigungen aber moderat und leicht zu bezwingen.

Etwas trickreich sind die unzähligen Straßenquerungen, die im Lauf eines Stadtbummels zu bewältigen sind. Weil die Straßendecken stärker gewölbt sind als in deutschen Städten, steht man, wartend auf das Grün der Fußgängerampel, meist im Gefälle, und muss sodann den Zebrastreifen regelrecht erklimmen, was sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite logischerweise in umgekehrter Reihenfolge wiederholt. Am besten kommt man damit zurecht, wenn man das Gefälle gekippt fährt und dabei Schwung für die anschließende Steigung holt. Da sich diese Prozedur im Laufe eines längeren Stadtbummels unzählige Male wiederholt, braucht es schon ein wenig Kondition, aber auch Fußgängern verlangt stundenlanges Pflastertreten in großen Städten ja einiges ab.

Ein Kapitel für sich ist – wie überall – die Suche nach behindertengerechten Toiletten. Paris schneidet dabei gar nicht so schlecht ab. Eine sichere Bank sind die allgegenwärtigen Filialen der großen amerikanischen Fast-Food-Konzerne, die in der Regel über entsprechende Einrichtungen verfügen, und natürlich auch die großen Kaufhäuser. In zunehmendem Maß finden sich auch rollstuhltaugliche öffentliche Toiletten in Form von auf den breiten Trottoirs der großen Straßen errichteten Häuschen. Die Bestückung der Stadt damit scheint derzeit arrondissementweise zu erfolgen. Während etwa zwischen Place de la Republique und Bastille schon eine flächendeckende Versorgung zu verzeichnen ist, sucht man in der Umgebung des Tour Eiffel noch vergebens. Nicht zählen sollte man auf Restaurants und Bistros.

Komfortabel: Rund ums Centre Georges Pompidou wurde das Kopfsteinpflaster „entschärft“.
Komfortabel: Rund ums Centre Georges Pompidou wurde das Kopfsteinpflaster „entschärft“.

Wie bereitet man sich am besten auf einen Paris-Besuch vor? Literatur zu den Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt gibt es im Überfluss. Geheimtipps verdienen diese Bezeichnung nicht mehr, sobald sie irgendwo niedergeschrieben sind. Paris-Klischees sind Legion, und kulinarisch betrachtet liegen Himmel und Hölle für den hungrig durch die Metropole Streifenden nah beieinander. Für mäßiges Essen zu viel Geld auf den Tisch zu legen, ist genau so leicht, wie exzellente Kost für einen absolut angemessenen Preis zu genießen.

Wer der französischen Sprache mächtig ist, gleich ob fließend oder bruchstückhaft, profitiert von einem klaren Sympathiebonus. Das mag man finden wie man will, es ist einfach so. Meine Highlights diesmal, teils Neuland, teils wohlvertraut: Austern bei Wepler an der Place de Clichy, einer Brasserie, die schon im Baedeker von 1912 lobend erwähnt wird, ein Bummel den Canal St. Martin entlang, an den die Einheimischen sich flüchten, um ein wenig dem Trubel ringsum zu entkommen, und ein genial gutes und preiswertes indisches Essen in der Rue Cail, unweit des Gare du Nord in einem Viertel, das fest in indischer bzw. tamilischer Hand ist.

Paris im Rollstuhl – das war anders, aber nicht wirklich schwierig. Während wir mit 320 km/h die Champagne in Richtung Deutschland durchqueren, mache ich in Gedanken schon Pläne für die nächste Reise an die Seine.

WP

Fotos: Daniela Böhm

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