„Mit einem weinenden und mit einem lachenden Auge“, sagt Simone Briese-Baetke, schaue sie auf die WM. Natürlich „weinend“, sie ist schließlich nicht dabei, war seit dem Frühjahr krank. Eine ausreichende Vorbereitung – unmöglich. Die körperliche Fitness ist einfach noch nicht da. Deutschlands beste Rollstuhlfechterin kann also an den Titelkämpfen vom 18. bis 23. September im ungarischen Eger nicht teilnehmen. „Das ist natürlich ein großer Verlust für das Team“, sagt Cheftrainer Swen Strittmatter, „Simone ist schon überragend talentiert“. Balwinder Cheema, Sylvie Tauber, Ulrike Lotz-Lange und der talentierte, erst 16-jährige Maurice Schmidt sind die vier nominierten Fechter des Deutschen Behindertensportverbandes. „Einzige ernsthafte Medaillenkandidatin ist nun Ulrike Lotz-Lange“, meint Strittmatter, „leider ist ihre Startklasse C nicht paralympisch“. Die anderen sind „zur Zeit noch weit weg vom Rio-Zug“, so der Cheftrainer, „es müsste alles schon optimal laufen, aber wer weiß. Gerade im Degen ist alles drin“.
Gedanken um einen Startplatz bei den Spielen im kommenden Jahr in Rio muss sich Simone Briese-Baetke trotz ihrer langen Auszeit nicht machen. Sie hat im letzten Jahr den Gesamtweltcup gewonnen, war insbesondere im Degen praktisch unschlagbar. Sie hat so viele Punkte Vorsprung, dass das Ticket nach Brasilien sicher ist. „Das ist mein ganz großes Ziel, ich bin voll motiviert, will unbedingt nach Rio“, sagt die 49-Jährige, die 2007 ernsthaft mit dem Sport begonnen hat. Neben dem Degen ist sie auch mit dem Florett aktiv, fechtet wie alle anderen auch mit zwei Waffen. „Unsere Wettbewerbe sind weltweit nicht so ausgelastet wie bei den Fußgängern“, erklärt die gebürtige Mecklenburgerin die insgesamt eher geringe Zahl an paralympischen Fechtsportlern, „aber das bringt ja auch die Chance auf zwei Medaillen“. Die Konkurrenz beim Kampf um Edelmetall ist dennoch groß.
Die einstige Leichtathletin holte in London 2012 Degen-Silber
Die Regeln für die einzelnen Waffen sind die gleichen wie bei den Fußgängern, lediglich beim Degen gibt es eine Abweichung: Die Beine gehören bei den Behinderten nicht zur Trefferfläche. Swen Strittmatter hat dafür eine ganz einleuchtende Begründung: „Es nehmen ja auch Beinamputierte an den Wettkämpfen teil. Die hätten dann mit weniger Trefferfläche einen Vorteil.“ Simone Briese-Baetke kann durch eine MS-Erkrankung, die nach der Geburt ihres Sohnes vor 27 Jahren begann, inzwischen nicht mehr laufen. Sie litt außerdem jahrelang unter schweren epileptischen Anfällen, die durch eine komplizierte Gehirnoperation zwar behoben wurden – allerdings ist seitdem ihr Gesichtsfeld eingeschränkt. Die gelernte Kauffrau ist auf den Rollstuhl angewiesen, aber der ist für die willensstarke, einstige Leichtathletin eben auch ein Sportgerät, das ihr eine Karriere und athletische Herausforderung auch mit körperlicher Einschränkung ermöglichte. „Ich brauche aufgrund meiner Erkrankung einen Sport, der die Bauch- und Rückenmuskulatur stützt. Früher habe ich es mal mit Radfahren versucht, aber das ist mir zu eintönig“, erzählt sie.
Der Fechtrollstuhl ist ein sehr spezielles Gerät, das viel aushalten muss. 5.300 Euro hat ihr aktueller Stuhl gekostet, speziell angefertigt vor den Paralympischen Spielen in London 2012. Solch eine Anschaffung ist nur mit Unterstützung von Sponsoren, der Sporthilfe und der Mitgliedschaft im Top Team des DBS möglich. Selbst ein ‚normaler’ Fechtrollstuhl kostet schon zwischen 2.000 und 3.000 Euro. „Die Belastungen für das Gerät sind enorm, insbesondere an den Schweißnähten“, weiß Simone Briese-Baetke. Vor allem, weil der Rollstuhl im sogenannten ‚Fechtgestell’ fest arretiert ist, wenn sich die Kontrahenten im Gefecht gegenübersitzen.
Die Vizeweltmeisterin Imke Duplitzer hat Simone Briese-Baetke schon bezwungen
Die Dynamik des Sports, die findet nur in Arm und Oberkörper statt. Ansonsten sitzt der Athlet fest – und kann seinem Gegner eben nicht nach hinten ausweichen. „Bei den Fußgängern gibt es den letzten Meter, von dem aus es kein weiteres Zurück mehr gibt“, vergleicht Briese-Baetke ihren Sport mit dem „anderen“ Fechten: „Wir fechten immer auf dem letzten Meter.“ Oberkörper, Arme, Hände, Angriff, Abwehr, genaueste Augen-Hand-Koordination – das geht alles in hohem Tempo und verlangt ganz besondere Reaktionsschnelligkeit und Genauigkeit. Bei einem Kampf im Rollstuhl, fest arretiert, sieht der gute Fußgänger gegen den guten Rollstuhlfechter oft schlecht aus. Die einstige Vizeweltmeisterin Imke Duplitzer hat da schon ihre Erfahrungen gegen Simone Briese-Baetke gemacht. Keine schlechten – auch wenn die behinderte Sportlerin gewonnen hatte. „Die Fußgänger lernen durch Gefechte mit uns, intensiv auf dem letzten Meter zu arbeiten. Wir haben dadurch auch viele Sparringspartner. Fechten ist in den Vereinen schon oft sehr integrativ“, erzählt Briese-Baetke.
So ist es auch bei ihrem neuen Fechtclub in Kassel. Gerade erst ist sie nach Nordhessen umgezogen, näher zu den Kindern. Sie ist noch dabei, sich einzurichten. Ihren neuen Verein aber hat sie schon gefunden, in dem will sie sich auf Rio vorbereiten. Gerade hat sie wieder mit dem Athletik- und Fitnesstraining begonnen, will sich körperlich aufbauen, bevor sie eine Waffe in die Hand nimmt. „In Kassel freuen sich schon alle, mit der Simone zu fechten“, sagt Simone Briese-Baetke. Und das ist dann ihr lachendes Auge.
Deutsches Quartett zu den Weltmeisterschaften im Rollstuhlfechten
Ohne Deutschlands beste Rollstuhlfechterin Simone Briese-Baetke, dafür aber mit dem Quartett Balwinder Cheema, Sylvie Tauber (beide Rostock), Ulrike Lotz-Lange (Lübeck) und Maurice Schmidt (Böblingen) startet das Team des Deutschen Behindertensportverbandes mit Cheftrainer Swen Strittmatter vom 18. bis 23. September 2015 bei der WM in Eger (Ungarn). Die Trauben hängen hoch für die Athletinnen und Athleten, doch Überraschungen sind nie auszuschließen. „Darauf hoffen wir, aber es wird schwer, keine Frage“, sagt Swen Strittmatter. Die Aussichten für die Paralympics in Rio? Derzeit eher trüb. Bei den Weltmeisterschaften qualifizieren sich die Titelträger direkt, die anderen können wichtige Punkte sammeln. Die Konkurrenz ist stark, die Erwartungen ans deutsche Team gering. Vielleicht liegt gerade darin die Chance – auch schon mit Blick auf Rio. Ein Lichtblick für die Zeit danach: der erst 16-jährige Maurice Schmidt. „Ein großes Talent“, freut sich Strittmatter über seinen Nachwuchs-Schützling. Bei seiner ersten internationalen Teilnahme gilt es zunächst darum, Erfahrungen zu sammeln. „Wir wollen ihn behutsam aufbauen“, sagt Strittmatter – und denkt dabei an die Paralympics 2020 in Tokio.
Mehr zum Top Team, das von der Allianz Deutschland AG und der Deutschen Telekom AG gefördert wird, und zum Kader finden Sie hier und unter www.deutsche-paralympische-mannschaft.de.
Andreas Hardt