Christo’s Gang über das Wasser

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Hindernisse wollen überwunden werden.

Christo Wladimirow Jawaschew hatte einen Traum: Auf dem oberitalienischen Lago d’Iseo wollte er über das Wasser gehen. 16 Tage lang hielten ‚The Floating Piers’ des Verhüllungs- und Objektkünstlers Christo das winzige lombardische Städtchen Sulzano in Atem. So etwas hatten die Bewohner noch nicht gesehen: Nicht enden wollende Menschenschlangen zogen Tag und Nacht durch die engen Gassen, um das Werk des Künstlers von Weltruhm zu begehen. Denn von der dortigen Uferpromenade aus gelangte man auf die verwegene Stegkonstruktion aus rund 200.000 Schwimmkörpern, die für etwas mehr als zwei Wochen das Festland mit zwei vorgelagerten Inseln verband.

Durch die kurze Fußgängerzone, dann um die nächste Ecke, schon erreichte man über eine Rampe den ca. sechzehn Meter breiten, schwimmenden Steg. Familien mit Kindern, verliebte Pärchen, Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern: junge, alte, fitte und gebrechliche Menschen und auch der eine oder die andere (mutige) Rollstuhlfahrerin reihten sich ein, um hinüber zur sonst nur mittels Fährverbindung erreichbaren Insel Monte Isola zu gelangen. Auf dieser liegt gleich gegenüber von Sulzano das malerische Örtchen Peschiera Maraglio, wo es sonst gleichermaßen beschaulich zugeht. Hübsche Lokale reihen sich entlang der ebenerdigen Uferpromenade aneinander und locken abends mit romantischer Stimmung Einheimische und Touristen vom Festland. Vom ‚Inselberg’ aus ging es weiter zu dem Minieiland San Paolo mit einem einzigen mondänen Anwesen.

Rundgang mit Hindernissen

Der Zugang zum Kunstevent war zunächst barrierefrei erreichbar. Die Herausforderung begann dann auf dem Steg, denn die einzelnen Kunststoffelemente waren nicht fugenfrei miteinander verbunden. Also ging es mit gekipptem Rollstuhl weiter. Durchaus eine Herausforderung, denn man begab sich auf drei Kilometer gefühlte Pflastersteinstrecke. Der schwimmende Steg schwankte im leichten Wellengang, das machte es nicht leichter. Doch die Aussicht und die Atmosphäre entschädigten für alle Mühen und Unannehmlichkeiten. Man blickte und staunte – über das großartige Kunstwerk, die wunderbare Szenerie und die ungeheuren Menschenmengen, die einträchtig und in bester Feiertagslaune den See überquerten.

Das ruhige Wasser des viertgrößten Sees in Oberitalien schwappte auf die dahliengelben Stoffbahnen an den Rändern des Stegs. Denn Christo wäre nicht Christo hätte er seine Installation nicht mit Stoff verhüllt. Fast 100.000 Quadratmeter Gewebe waren von dem 81-jährigen Künstler und seinem Team in leichten Falten verlegt auf dem Steg aufgebracht worden. Haptik und Farbe beileibe kein Zufall. Das in Münster hergestellte Polyamidgewebe reflektierte das Morgenlicht rötlich, die Mittagssonne in einem satten gelb und das Abendlicht schließlich orange. Die nassen Ränder der Stege wirkten dunkler, sie wirkten wie nasser Sand in der Brandung.

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Volksfeststimmung beim Überqueren des Sees.

Erhabenes Kunstwerk

Der in Bulgarien geborene Künstler empfahl, den Steg barfuß zu begehen und den Untergrund zu erfühlen. Auch als Rollstuhlfahrer konnte man auf Tauchfühlung mit der Textur des rauen Gewebes gehen. Denn der Zugang zum hinteren Schenkel der Seeüberquerung war nur über eine in Stoff verhüllte Treppe zu erreichen, zudem das Tragen der Rollstuhlfahrer aus versicherungstechnischen Gründen nicht gestattet. Auf dem Allerwertesten die Treppe hinunter rutschend konnte einem aber keiner den Zugang verwehren. Wer konnte war somit nach einigen Stufen zurück auf dem Steg, der sich nur wenige Zentimeter über den Bergsee erhob, und konnte weiter rollen. Sicher, auch den entfernten Steg hätte man von der anderen Seite erreichen können. Den von Christo angedachten Rundgang hätte man dann aber unterbrochen. Es blieb unverständlich, warum hier statt der Stufen nicht eine Rampe den Zugang für alle ermöglichte. Ein kleiner Wermutstropfen.

Traum des Künstlers

Spätestens 1995 wurden die Christos mit einem Schlag in ganz Deutschland bekannt als das Künstlerduo das Reichstagsgebäude vollständig einkleidete. Christo verhüllte zusammen mit seiner Frau auch andere bekannte Bauwerke, Industrieobjekte und ganze Landschaften. “Jedes Projekt ist ein Teil unseres Lebens, den wir nie vergessen“, erzählt der bulgarischstämmige New Yorker. Wie fast alle Projekte so reifte auch die Installation in der Lombardei über viele Jahre hinweg. “Jeanne Claude und ich haben die Floating Piers 1970 erstmals erdacht. Erst später habe ich den Iseosee als den Ort der Inspiration für dieses Projekt entdeckt. Das Wasser des Sees, die Landschaft und die umgebenden Gemeinden waren alle Teil der Floating Piers.“

2009 starb Jeanne-Claude. ‚The Floating Piers’ waren das erste Großprojekt, welches Christo ohne seine Frau zu Ende plante und umsetzte. Auch Christo’s Kunst ist vergänglich: Die Installation hatte nur wenige Tage Bestand, dann wurde sie abmontiert und zum Recyceln abtransportiert. Die Landverbindung zwischen den beiden Fußgängerzonen von Sulzano und Peschiera Maraglio ist Geschichte, die Fähre hat wieder Konjunktur. Für einen kurzen Augenblick war der Iseosee Mittelpunkt der kunstinteressierten Welt. Die alljährliche Touristensaison schloss nahtlos daran an.

Christo machte seinen Traum wahr. Er lief über das Wasser. Und über 1,2 Millionen seiner „Jünger“ folgten ihm.

Kevin Schultes

Fotos: Arnd Dörfling

 

Dieser Artikel erschien im RehaTreff (03/2016).
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