Gleitschirmfliegen für Rollstuhlfahrer

Als Gleitschirm-Lehrer brachte Stefan Keller einem Rollstuhlfahrer das Fliegen bei. Am 26. Juni 2013 erwischt es ihn selbst, er stürzt ab und erleidet eine inkomplette Querschnittlähmung. Doch der Schweizer hat Pläne und Träume, lässt sich nicht unterkriegen. Unter dem Motto „Jetzt erst recht!“ führt er seine Flugschule weiter und spezialisiert sich auf die Ausbildung von Menschen mit Handicap.

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„Geht‘s dir gut?“, frage ich den Mann am anderen Ende der Telefonleitung. „Ja“, antwortet er, „mir geht‘s ausgezeichnet. Ich sitze da, am Strand von Ospedaletti, und schaue zu, wie meine Schüler ihre Landeeinteilung fliegen.“ Es erstaunt mich manchmal immer noch, wenn ich meine, jemanden in der Nähe anzurufen und dieser dann von ganz woanders antwortet, wie gerade Stefan Keller. Aber das ist eben eine dieser Geschichten, die das moderne Leben schreibt. Und Stefans Antwort ist ebenfalls eine dieser Geschichten, die das Leben schreibt.

Die Faszination des Fliegens

Auf Stefan Keller wurde ich aufmerksam durch Rosa Zaugg, eine unternehmungslustige Rollstuhlfahrerin, welche meist mit dabei ist, wenn die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) einen Anlass anbietet, der im weitesten Sinn etwas mit Fliegen zu tun hat. Ziemlich zeitgleich wie Stefan seine Flugschule aufbaute, lernte er Rosa kennen und fing an, sich mit der Thematik Rollstuhlfahrer auseinanderzusetzen. Beim Dorffest Günsberg im Jahr 2007 hat er mit dem Delta- und Gleitschirmklub Weißenstein, in welchem er im Vorstand saß, einen Flugbetrieb eingerichtet. Um diesen attraktiv zu gestalten, sollte sich der Start- und Landeplatz auf dem Festgelände befinden. Dafür wurde eine Schleppwinde benötigt. Nicht alle Piloten hatten die nötige Ausbildung und mussten diese nachholen. Und dann könnte man, fand Stefan, noch eine Wohltätigkeitsveranstaltung draus machen und Rollstuhlfahrer einladen. So langsam hielten die anderen ihn für leicht verrückt, aber die anfänglichen Widerstände schlugen mit der Zeit um in Begeisterung und schlussendlich brachten sie an diesem Wochenende an die 30 Rollstuhlfahrer „in die Luft“, wie Stefan es nennt. „Es war ein ganz tolles Erlebnis, und ich schrieb mir auf meine Fahne, dass in meiner Flugschule auch Rollstuhlfahrer eine Ausbildung machen können.“ Denn für Stefan war klar, Rollstuhlfahrer können genauso Gleitschirm fliegen wie Fußgänger. „Sobald sie in der Luft sind, ist das Handicap weg“, meint er. „Und Fliegen hat die Menschen von jeher fasziniert, ob sie nun Fußgänger oder Rollstuhlfahrer sind.“

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Über den Wolken …

Nach dem Dorffest hat Stefan mit der SPV Kontakt aufgenommen, und gemeinsam wurden in den folgenden Jahren Gleitschirm-Events in Interlaken und Mollis durchgeführt. Beide Male seien es ganz eindrückliche Tage gewesen. In Interlaken sei ein Pilot mit einem Rollifahrer geflogen, trotz der dünnen Nebeldecke, die es dort hatte. Der Rollstuhlfahrer habe danach den Flug oben in der Sonne und das anschließende Ein- und Abtauchen durch die Nebeldecke ganz eindrücklich beschrieben. „Obwohl ihn dieser Text wahrscheinlich Stunden gekostet hat, da seine Friedreich-Ataxie schon sehr fortgeschritten war. Es ist einfach wunderschön, wenn man so etwas ermöglichen kann“, meint Stefan. Ein anderes Erlebnis mit einer jungen Tetraplegikerin ist ihm auch in Erinnerung geblieben: „Es war schwierig, ihr das Gurtzeug anzupassen, da sie praktisch keine Stabilität hatte. Auf dem Gipfel stand ein Holzkreuz, dieses hat sich einfach angeboten …“ Sie haben die junge Frau im Gurtzeug daran „aufgehängt“, so konnten sie sie problemlos stabilisieren.

Die anwesenden Zuschauer seien teilweise ziemlich schockiert gewesen. „Aber das Kreuz steht ja für Tod und Auferstehung, da war doch eigentlich ganz viel Symbolik drin“, meint Stefan. Und einem anderen Rollstuhlfahrer, der wohlgemerkt einen Unfall mit dem Gleitschirm hatte, hat Stefan wieder in die Luft geholfen, er selber als Passagier im Tandem. Jetzt fliegt der Rollifahrer ab und zu mit Passagieren. „Seine erste Passagierin wusste nicht, dass er nicht gehen kann! Das war spannend.“ Stefan sei vor Ort gewesen, falls sie sich nicht darauf eingelassen hätte, aber es sei alles gut gegangen. Auch seine Schüler seien mit dabei gewesen. „Gleitschirmfliegen ist kein Risikosport, aber wenn etwas passiert, ist oft der Rücken betroffen. So fliegt oft die Angst vor einer Querschnittlähmung mehr oder weniger bewusst mit. Wenn ich meine Schüler bei solchen Anlässen mit dabei habe, thematisieren wir von Anfang an, dass das Leben weitergeht, auch wenn mal was passieren sollte.“ Die Zuschauer an den Startplätzen seien jeweils unterschiedlicher Meinung, wenn sie Rollstuhlfahrer fliegen sehen. Die einen fragen, ob sie eigentlich noch nicht genug hätten, andere fänden es toll, dass so etwas möglich sei.

Gehen ist nicht gleich Gehen

So reiht sich Geschichte an Geschichte: Ein Schüler hatte sich angemeldet für die Ausbildung zum Gleitschirmpiloten, zusammen mit einem Freund. Da dieser noch auf Reisen war, wartete er auf ihn – und hatte seinen Bikeunfall, der ihn zum Rollstuhlfahrer machte. Er habe das mit dem Gleitschirm abgehakt. Diese Geschichte habe ihm der Rollifahrer erzählt während des halbstündigen Tandemflugs von Planplatten nach Meiringen. Selbstverständlich hat Stefan auch da „helfend“ eingegriffen: Zusammen haben sie einen Flugrolli zu bauen begonnen, viel selber gemacht oder machen lassen, jetzt liegt das Ganze etwas auf Eis, der Rollifahrer muss jetzt warten, bis Stefan wieder bereit ist … Denn Stefan sitzt mittlerweile selber im Rollstuhl. Im Juni 2013 hatte er einen Unfall, einen Gleitschirmunfall. „Ich hatte keine Chance. Eine aggressive thermische Turbulenz hat mich regelrecht vom Himmel gefegt.

Ich bin aus 20 Metern auf den Boden geprallt. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt und so gut überlebt habe.“ Er habe noch gemerkt, dass sein Gleitschirm eine Störung habe, danach wisse er nichts mehr. „Der Arzt, der die Erststabilisation gemacht hat, hat mir gesagt, ich könne nachher wieder ein bisschen gehen, Blase und Darm seien das größere Problem. Er hat Recht gehabt.“ Was er damals nicht verstanden habe sei, dass Gehen nicht einfach Gehen sei. „Ich kann zwar gehen, aber es ist nicht mehr das Fortbewegungsmittel von früher. Klar ist es wertvoll und ich bin sehr dankbar dafür. Aber ich bin lieber im Rollstuhl unterwegs, es ist spaßiger, und ich bin flinker. Zudem sind die Leute aufmerksamer. Wenn man an Stöcken geht, wird man oft angerempelt oder geschnitten, das passiert im Rollstuhl viel weniger. Zudem verursacht das Gehen viele Schmerzen, und ich muss es einteilen. Ich will dem Sorge tragen, damit ich die nächsten 30 Jahre noch davon profitieren kann, dort wo’s wichtig ist.“ Ein interessantes Phänomen sei übrigens, dass er beim Gehen denke wie früher. „Ich falle jedes Mal rein, weil ich vergesse, dass ich für alles viel länger brauche. Mit dem Rolli kann ich dann zeitlich aufholen, was ich als Teilfußgänger an Zeit verliere.“ Die Tatsache, dass er sich so viel und so oft mit Rollstuhlfahrern auseinandergesetzt habe, habe ihm sehr geholfen in seiner Rehabilitation. Er habe von Anfang an gewusst, dass das Leben weitergeht. „So hatte ich nie wirklich eine Krise. Ich wusste, dass sich mein Leben ändert, dass einige Dinge nicht mehr möglich sein würden, dafür andere neu dazu kommen.“

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Gleitschirmfliegen für alle

So hat sich der Kreis für Stefan geschlossen. Die Gleitschirmschule hat er immer noch, und er wird die Ausbildung seiner Fußgänger-Schüler noch zu Ende bringen. „Danach will ich aber nur noch Rollifahrer ausbilden. Ich möchte Gleitschirmfliegen als Rollstuhlsportart erschließen. Die Zeit ist reif dazu, ich habe alle Vorkenntnisse, die nötige Ausbildung, ich weiß, worum es geht. Bei den meisten Rollifahrern scheiterte die Fliegerei daran, dass sie auch bei größter Selbstständigkeit auf ein bisschen Hilfe angewiesen sind, z. B. beim Transfer zum Startplatz oder beim Auslegen des Schirms, das geht nicht alleine. Das brachte mich auf die Idee, das Ganze zu institutionalisieren und der SPV anzuschließen, wie andere Sportarten auch.“ Das sei der Weg, meint er, er brauche noch Zeit, aber je einen Grundkurs für Rollifahrer möchte er im Juli, August und September anbieten, vielleicht mal mit zwei Teilnehmern. „Das passt dann“, sagt er, „nicht zu viele aufs Mal“.

Wir sind gespannt, wie viele Rollstuhlfahrer er „in die Luft bringt“. Informationen darüber, wie es weitergeht, gibt es auf seiner Internetseite www.fluso.ch und später auch auf www.spv.ch unter „Veranstaltungen“.

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Gabi Bucher, Fotos: Stefan Keller

Nachdruck aus Paracontact 2/2014 der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung, Nottwil

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