Neubeginn: Mehr Verantwortung für alle

Seit zehn Jahren erreichten die deutschen Rollstuhlbasketballerinnen bei allen Welt- und Europameisterschaften das Finale. Bei den Paralympics 2008 in Peking gewannen sie ebenso wie in Rio 2016 Silber, 2012 gelang mit Gold gar der ganz große Triumph. Doch vor den am kommenden Mittwoch (21. Juni) beginnenden Europameisterschaften auf Teneriffa ist vieles anders. Holger Glinicki, der die Mannschaft seit 2006 als Cheftrainer betreut hatte, hörte nach den Paralympischen Spielen in Brasilien auf. Ebenso nicht mehr dabei sind Kapitänin Annika Zeyen, die nun Rennrollstuhl fährt, sowie Gesche Schünemann, Marina Mohnen und Simone Kues. Dafür gibt es neue Gesichter. Den Umbruch gestalten darf Martin Otto, der seit Anfang des Jahres Nationaltrainer ist. Otto war selbst Basketballer und spielte in der Bundesliga, nach einer Knieverletzung suchte er die Herausforderung im Rollstuhl – und blieb bis heute dabei. Zuletzt trainierte er über mehrere Jahre die Köln 99ers, bis die Möglichkeit kam, die Damen-Nationalmannschaft zu übernehmen. „Das ist die Herausforderung schlechthin, eine Challenge auf dem höchsten Level, weil ich die besten Spielerinnen Deutschlands trainieren darf“, sagt der 54-Jährige.
Zu Beginn gab es zwei Lehrgänge, bei denen sich alle für die Nationalmannschaft interessanten Spielerinnen empfehlen konnten. „Wir wollten niemanden ausschließen und allen die gleichen Chancen geben. Es war super spannend, das Team dann zusammenzustellen – aber ich bin extrem zufrieden“, sagt Otto, nachdem er den zwölfköpfigen Kader für Teneriffa bekanntgegeben hatte. Linda Dahle, Katharina Lang, Andrea Seyrl und Catharina Weiß sind im Vergleich zu Rio neu hinzugekommen, wobei letztere mit erst 17 Jahren schon jetzt einen guten Eindruck hinterlassen hat. „Mir ist die Verzahnung zwischen Jugend und A-Kader wichtig und sie beweist, dass wir richtig liegen“, sagt Otto, der häufig von „Wir“ spricht.

Bei den Vorbereitungsturnieren bereits einen guten Eindruck hinterlassen

Von dem großen Betreuerteam, den er verantwortet – darunter Co-Trainerin Janet McLachlan, einer ehemaligen kanadischen Rollstuhlbasketballerin – schwärmt Otto regelrecht: „Jeder packt mit an, jeder trägt mit einem großen Aufwand zu dem bei, was wir jetzt schon erreicht haben. Janet ist genau das, was ich mir versprochen habe: Unsere Philosophien sind deckungsgleich, wir wollen beide Teambasketball spielen.“ Am Anfang sei das aber harte Arbeit gewesen, gibt Otto zu, nachdem er bei den ersten Lehrgängen viele Baustellen sah, die es in kurzer Zeit zu beheben galt: „Wir haben den Fokus auf das Spielverständnis gelegt, viel analysiert und dann grundlegende Regeln formuliert, was wir in verschiedenen Situationen machen wollen. So sind wir viel schneller zusammengekommen als gedacht.“ Lohn dessen waren auf Anhieb gute Ergebnisse bei den Vorbereitungsturnieren in Frankfurt und im englischen Worcester: Australien und Großbritannien konnten bei jeweils einer Niederlage zwei beziehungsweise einmal geschlagen werden, nur zu den Niederlanden fehlte noch etwas mehr, „aber die sind auch klarer EM-Favorit“, sagt Otto. Angeführt von Laura Fürst gibt es neuerdings ein Kapitäns-Trio, zu dem auch Mareike Miller und Maya Lindholm gehören. Fürst, die beim RBB München spielt, freut sich riesig auf ihre neue Aufgabe: „Ich bin stolz, Kapitänin zu sein. Gleichzeitig ist es aber auch gut, dass die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt ist.“ Die ebenfalls erfahrenen Johanna Welin, Annabel Breuer, Anne Patzwald und Annegrit Brießmann sind neben dem Trio auf dem Feld angehalten, mehr selbst zu werfen als früher und ihre Wurfvariabilität zu schulen. „Das macht uns unberechenbarer“, sagt die 26-jährige Neu-Spielführerin, „Mareike Miller ist unsere stärkste Offensivkraft, aber wenn der Gegner versucht sie aus dem Spiel zu nehmen, ergeben sich Lücken für uns andere.“ Die Vorbereitungsturniere seien lehrreich gewesen, auch wenn alle Spielerinnen aufgrund der Tatsache, mehr Verantwortung übernehmen zu müssen, zu Beginn nervös waren: „Das ist jetzt ein Entwicklungsprozess, es ist unheimlich viel Potenzial vorhanden und wir sind alle super motiviert. Den Schwung wollen wir nun mitnehmen.“
Auch wenn viel Erfahrung und Qualität nach Rio verloren wurde, ist Fürst positiv gestimmt: „Wir haben gesehen, dass wir Großbritannien ärgern können. Das ist bei der EM unser erstes Spiel, das wird der Gradmesser. Wir wollen logischerweise unser bestes Basketball zeigen, in jedem Spiel.“ Trainer Otto sagt: „Mit einem ganz jungen Team wäre die EM wohl nur eine Durchlaufstation, aber dadurch, dass wir auch erfahrene Spielerinnen dabei haben, ist unser Ziel ganz klar das Halbfinale.“ Die anderen Nationen hätten bereits registriert, dass Deutschland nun variabler agiert: „Der englische Trainer sagte mir, dass wir unberechenbarer geworden sind.“ Ziel von Otto als „Verteidigungscoach“ sei es, möglichst wenige Punkte zuzulassen, was bisher auch ganz gut gelungen sei, „nur im Angriff müssen wir uns eben noch entwickeln.“

Hintergründe zu den Sportlerinnen und Sportlern der Deutschen Paralympischen Mannschaft finden Sie unter: www.deutsche-paralympische-mannschaft.de

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