Amputierte Menschen sind anders. Ich weiß das, denn mir fehlt ein halbes Bein. Fehlende Körperteile werden durch Prothesen ersetzt. Die äußere Erscheinung der Prothesen reicht von der perfekten Imitation eines verlorenen Körperteils über die grobe Annäherung von Umriss und Volumen bis hin zum aufregend-fantasievollen Blickfang. Begleiten Sie mich auf einem Streifzug von „Normalos“ bis zu „Exoten“.
Wer heute amputiert wird, kann sich freuen, denn er bekommt im Gegensatz zu Antike oder Mittelalter ein Körperersatzstück zur Verfügung gestellt. Im Ernst, wir Amputierte können uns glücklich schätzen, einer Solidargemeinschaft anzugehören, die so etwas ermöglicht. Damals war man, falls man überlebt hat, durch seine Versehrtheit für den Rest des Lebens unübersehbar verstümmelt. Man war auf Zuwendung von anderen angewiesen, man war bedürftig. Chance auf Unauffälligkeit? Fehlanzeige. So erkläre ich mir das Stigma, dem man als Amputierter bis auf den heutigen Tag ausgesetzt ist – es ist über Jahrhunderte erworben und bei uns kulturell verankert. Weil es noch kein Unterrichtsfach „Umgang mit Behinderungen“ gibt, weil die Emanzipation der Menschen mit Behinderung (weg von der Fürsorge, hin zur Selbstbestimmung) nur langsam voran schreitet, und weil die Öffentlichkeit nur zögerlich von der veränderten Realität Kenntnis nimmt, ändert sich das Menschenbild der Gesellschaft nur im Schneckentempo. Und das obwohl die Fortentwicklung der Prothesentechnik richtig Gas gibt und viele Amputierte schon lange aus der Fürsorgeecke raus sind.
Völlig folgerichtig wünscht sich jeder Amputierte zunächst reflexartig die Wiederherstellung seines äußeren Erscheinungsbildes, um diesem Stigma zu entgehen. Das mit der Wiederherstellung der Erscheinung einhergehende Versprechen der Rückkehr zur Normalität wird leider mit einer “schönen“ Prothese nur nicht eingelöst, weshalb dem Amputierten spätestens beim ersten Gebrauch seiner „schönen“ Prothese klar wird, dass er zwar dem veralteten Menschenbild der Gesellschaft gerecht werden kann, aber sein Selbstbild, seine Eigenwahrnehmung, dringend auf Vordermann bringen muss. Genau hier liegt die Keimzelle des Designunterschieds von Prothesen: in der Veränderung der Eigenwahrnehmung und der Möglichkeit, seine veränderte Eigenwahrnehmung und seine Individualität auszudrücken.
Die mit großem Aufwand Unauffälligen
Dabei bedeutet Individualität nicht zwangsläufig, mit aufgesprühten Totenschädeln herumzulaufen oder sich irgendwelche Fußball-Devotionalien in die Prothese einbauen zu lassen. Es fängt tatsächlich beim „Imitat“, der Extremform von Unauffälligkeit, an. Was durch die heutigen Methoden der Maskenbildner mit Silikon und anderen Materialien an Täuschungsmanövern realisierbar ist, sprengt Grenzen. Wenn also seriös eine unauffällige Prothese mit hohem Anspruch an die optische Erscheinung erstellt wird, wird der Versehrte natürlich genauestens untersucht, seine Erscheinung kopiert und dieses höchst individuelle Ergebnis auf die Prothese übertragen. Voila – fertig ist die Tarnkappe.
Diese Vorgehensweise ist aufwändig und damit teuer. Vom Prinzip haben wir wieder unser Mittelalterproblem: Unsere verkrüppelten Vorfahren hatten im Regelfalle kein Geld, sich Prothesen bauen zu lassen – Ausnahmen wie z.B. Götz von Berlichingen mit seiner „Eisernen Hand“, bestätigen diese Regel, denn Herr von Berlichingen hatte Geld. Auch heute kann sich nur derjenige aufwändiges Design leisten, der Geld mitbringt, oder zumindest einen Sponsor hat. Die Solidargemeinschaft ermöglicht dem durchschnittlichen Amputierten (lustiges Wortspiel…) wenigstens eine Annäherung an die Wiederherstellung des äußeren Erscheinungsbildes: der hautfarbene Kosmetikstrumpf über Weichschaumverkleidung ist so eine Annäherung, gerne genommen auch in den Varianten des hautfarbenen Kunststoff- oder Gießharzfinishs, den vermutlich jeder Amputierte schon mal irgendwie gesehen hat.
Die Verkleidungsasketen: Energiesparendes Nicht-Mehr-Verbergen
Wenn sich die Eigenwahrnehmung ändert, kann das zum „Frieden“ mit der eigenen Andersartigkeit führen. Der Weg zu diesem Frieden ist individuell, hat aber häufig mit Positiverlebnissen, wie z.B. sportlicher Leistung trotz Behinderung, zu tun. Diese Positiverlebnisse sorgen nach und nach für die Erkenntnis, dass die Wertigkeit eines Menschen nicht von seiner körperlichen Vollständigkeit abhängt. Diesen Gedanken führen nicht Wenige zu Ende, indem sie sich nicht mehr über ihre Erkennbarkeit als Amputierte sorgen und den Zusatzaufwand, etwas zu verkleiden, was sie gar nicht mehr verstecken wollen, auch nicht treiben. Dieses mental energiesparende Nicht-Verkleiden ist nicht zu verwechseln mit dem klagend-offensiven „Seht-her-wie-schwer-ich-es-habe-bemitleidet-mich“, sondern Ausdruck einer entspannten Akzeptanz der Andersartigkeit. Einzig praktische Erwägungen wie Schutz der Kleidung vor Verschleiß können diese Menschen dazu bewegen, eine Funktionsverkleidung zu tragen. Ansonsten sieht man sie im Sommer genauso leicht bekleidet wie alle anderen in der Stadt oder am Strand umherlaufen. „Sie verstören die simplen Charaktere der Gaffer und erobern sich den Respekt für sich, so wie sie sind.“ stellt Andreas Mühlenberend, Professor für Industriedesign an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Gründer der Firma Resolutdesign, fest. Recht hat er.
Exemplarisch für eine Frau, die ihren Frieden mit ihrer Amputation gemacht hat, möchte ich Kiera Roche zu Wort kommen lassen. Die Oberschenkelamputierte ist Vorsitzende des Vereins „Limb Power“ aus Lingfield / England (www.limbpower.com). Sie berichtet aus Ihrer Erfahrung: „Ich denke, wir alle streben danach, dazu zu gehören und Normal zu sein. Ich glaube meine Einstellung hierzu änderte sich, als ich begann, meine physischen Grenzen durch körperliche Herausforderungen zu verschieben, z.B. durch Radfahren von Lands End nach John O’Groats und Wandern in Kuba. Ich erkannte, dass die positive Einstellung zu meinen Fähigkeiten in eine positive Einstellung zu meiner äußeren Escheinung überführt werden konnte und auch sollte.“ Und weiter erzählt sie: „In den ersten Jahren habe ich mich darauf konzentriert, normal zu sein und Kleidung zu tragen, welche den Umstand, eine Amputierte zu sein, versteckte. Aber mit den Jahren fühlte ich mich immer wohler mit dem, was ich bin, und jetzt bin ich froh, verschiedene Beine für unterschiedliche Aktivitäten und unterschiedliche Gelegenheiten zu haben.“
Die Expressiven: Demonstrare ergo sum! – Ich zeige, also bin ich!
Ich komme damit zu den Menschen, die von Haus aus eher offen bis expressiv sind und sich sowieso nicht mit dem Gedanken anfreunden können, „normal“ zu sein. Zu diesen Menschen gehört die in Lettland geborene Sängerin und Songwriterin Viktoria Modesta Moskalova, die mittlerweile in London unter anderem als Model arbeitet. Wegen Problemen mit ihrem linken Bein, die auf eine ärztliche Unachtsamkeit bei Ihrer Geburt zurück zu führen sind, entschied sie sich im Alter von 21 Jahren zur Vermeidung stärker werdender gesundheitlicher Probleme ihr Bein im Unterschenkel amputieren zu lassen: „Drei Jahre nach meiner Amputation schließlich sah ich es als Möglichkeit an, mein Bein als Modegegenstand und Kunstprojekt zu betrachten, das eher aufregend ist und Spaß bereitet.“ Sie ließ sich im weiteren Verlauf eine ausgesprochen auffällige Unterschenkelprothese mit eingebauten Lautsprechern bauen. „Das erste Mal, als ich ein Bein trug, das so absolut bionisch war, gab es mir das volle Gefühl von Einzigartigkeit und das Gefühl eines „menschlichen Mutanten“ im bestmöglichen Sinne. Es war wirklich faszinierend, die Reaktionen der Leute zu beobachten, weil die meisten von Ihnen sprachlos waren.“
British Desgin
Etwas weniger dramatisch erklärt die Designerin von Viktoris‘s Prothese, die Britin Sophie de Oliveira Barata (www.altlimbpro.com), die Philosophie hinter den ausdrucksstarken Werken. Sie studierte „Special Effects prothetics for film and T.V.“ an der London Arts University, und arbeitete acht Jahre als „Bildhauerin“ für realistisch aussehende Prothesen. „Das ‚Alternative Limb Project‘ bietet einen maßgeschneiderten Service, welcher einzigartige Prothesen herstellt, die mit dem Körper verschmelzen oder als einzigartige Kunstgegenstände herausragen, um die Persönlichkeit und die Interessen des Trägers widerzuspiegeln. Eine alternativ gestaltete Prothese kann dazu beitragen, soziale Barrieren zu überwinden, das Auge zu erfreuen und ein nicht alltägliches Gesprächsthema zu bieten.“
Hamburger Handwerk
Man muss jedoch nicht zwingend ins Ausland reisen, um besonderes Design für eine Prothese zu bekommen. In Hamburg hat Orthopädietechniker Frank Purk nach Jahren konventionellen Prothesenbaus begonnen, mit dem Aussehen der Prothesen zu spielen. Mittlerweile bietet er sein Können in seiner eigenen Firma an (www.frankpurk.de). Seine orthopädietechnische Herkunft ist Wichtig für außergewöhnliches, aber alltagstaugliches Design. Er meint: „Schwierig ist, dass ich mich mit der Funktion der Prothese auskennen muss und mit den Teilen, die eingebaut sind. Denn wenn ich mit dem Design die Funktion einschränke, also Ventile überdecke oder Federn einklemme, dann haut das ganze Design nicht hin. Dann kann die Prothese noch so schön sein – sie läuft einfach nicht.“
Conclusio
Die Erscheinung von Prothesen ist immer, gewollt oder ungewollt, ein Ausdruck vom Verhältnis des Amputierten zu seiner Prothese. Die Reaktion der Menschen, die Amputierte mit Ihren Prothesen wahrnehmen, ist immer eine Aussage über deren Verständnis vom Umgang mit amputierten Menschen. Ich fände es schön, wenn wir mehr experimentieren und mehr „Bein“ zeigen würden. Wenn der Umgang mit Amputierten und Behinderten dadurch häufiger würde, dadurch entspannter und letztlich natürlicher – denn das Mittelalter ist lange vorbei.
Michael Kramer
Dieser Artikel erschien im RehaTreff 04/2013 und kann hier als PDF heruntergeladen werden.Sie finden diesen Artikel interessant? Hier können Sie ein Abonnement für den RehaTreff bestellen. Das Jahresabo mit vier Ausgaben kostet 18.- € inklusive Versand und Mehrwertsteuer. |