Schwangere Frauen mit Behinderung finden oft keinen Arzt

Frauenärztin Dr. Gerlinde Debus (links) hat sich in ihrer Praxis auf die Behandlung von Frauen mit Behinderung spezialisiert. Auch für Patientin Bernadette Gradl (rechts) ging der Wunsch vom eigenen Kind in Erfüllung. (Foto: Susanne Böllert)
Frauenärztin Dr. Gerlinde Debus (links) hat sich in ihrer Praxis auf die Behandlung von Frauen mit Behinderung spezialisiert. Auch für Patientin Bernadette Gradl (rechts) ging der Wunsch vom eigenen Kind in Erfüllung. (Foto: Susanne Böllert)

Barrierefreie Praxis Fehlanzeige

Einen Gynäkologen zu finden, der auf ihre Bedürfnisse eingehen kann, ist für viele behinderte Frauen fast unmöglich. Doch gerade in der Schwangerschaft ist eine gute frauenärztliche Betreuung das A und O. An (nur) fünf Stellen in Deutschland hat man dies erkannt und Spezialambulanzen eingerichtet.

Natürlich hatte sie sich Sorgen gemacht. Sich gefragt, wie sich ihr Leben mit dem Baby verändern würde. Angst bekommen, wie sehr sie das Kind einschränken würde, sowohl körperlich während der Schwangerschaft als auch später in ihrer persönlichen Freiheit. Bernadette Gradl war ihre Selbstständigkeit immer so wichtig gewesen, und dass mit dem Baby nichts mehr so sein würde wie vorher, war ihr bewusst.

Inzwischen ist der kleine Raphael mit dem Blondschopf und den blauen Äuglein 16 Monate alt und Bernadette Gradls ganzer Stolz. „Ich bin sehr froh, dass wir ihn bekommen haben“, sagt die 36-Jährige. Aber noch ein Kind? Das würde sie überfordern, ist die Münchnerin überzeugt. Sie lebt von Geburt an mit einer durch eine Zerebralparese verursachten Tetra-spastik, ihre Bewegungen sind unkontrolliert, Sprechen und Schlucken fallen der Rollstuhlfahrerin schwer. Ihr Mann ist kleinwüchsig. Der Sohn ebenfalls.

Seltene Spezialambulanz in Dachau

Dass sich die Buchautorin trotz aller Bedenken für ein Kind entschieden hat, ist wohl nicht zuletzt einem Zufall zu verdanken: Die Netzwerkfrauen Bayern, ein Zusammenschluss von 250 behinderten Frauen, hatten ihr den entscheidenden Tipp gegeben und sie an die gynäkologische Spezialambulanz am HELIOS Amper-Klinikum in Dachau verwiesen. Seit sieben Jahren werden hier Mädchen und Frauen mit starken körperlichen Behinderungen mit Sorgfalt, Zeit, Know How und der nötigen Ausstattung behandelt. All dies braucht es nämlich, um Frauen mit Handicap angemessen gynäkologisch zu betreuen. Umso erschreckender ist es, dass die Dachauer Ambulanz unter Leitung von Gerlinde Debus eine von nur ganz wenigen im gesamten Bundesgebiet ist, die sich auf die besonderen Bedürfnisse behinderter Frauen spezialisiert haben. Nur noch in Erlangen, Frankfurt, Berlin und seit 2011 in Bremen gibt es ähnliche Angebote (siehe Kasten). Angesichts knapp vier Millionen schwerbehinderter Frauen, die das Statistikamt für 2013 meldet, ein Tropfen auf den heißen Stein.

Nicht im Sinne der UN-Konvention

Für Angelika Zollmann von der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau kommt es einem Skandal gleich, dass es „in Deutschland kaum Möglichkeiten zur angemessenen gynäkologischen Untersuchung von mobilitätseingeschränkten Frauen gibt“. Der Vorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention, Menschen mit Behinderungen eine Gesundheitsversorgung „in derselben Bandbreite und Qualität“ wie Nicht-Behinderten einschließlich „sexualmedizinischer Gesundheitsleistungen“ zu ermöglichen, wird die Bundesrepublik so jedenfalls nicht gerecht. Dabei hat sie die Konvention bereits 2009 ratifiziert.

„Zwar kann im Prinzip jede Frau zu jedem Frauenarzt gehen“, sagt Angelika Zollmann, „doch faktisch ist das ganz und gar nicht der Fall.“ Recherchen im Vorfeld zur Eröffnung der „Gynäkologischen Praxis für Frauen im Rollstuhl“ am Klinikum Bremen-Mitte hätten gezeigt, dass keine einzige Frauenarztpraxis in der Hansestadt alle Voraussetzungen zur adäquaten Behandlung dieser Patientengruppe erfüllte. „Dazu hätten neben der Barrierefreiheit der Räume behindertengerechte Toiletten, ein höhenverstellbarer Untersuchungsstuhl und ein Hebelifter gehört, um den Frauen auf den gynäkologischen Stuhl zu helfen“, zählt Zollmann auf. Alles Dinge, die die Bremer Spezialpraxis, in der zehn niedergelassene Ärztinnen und Ärzte im Wechsel praktizieren und damit zumindest im Ansatz das Recht auf freie Arztwahl garantieren, aufweise.

Vom Gynäkologen abgewimmelt

„Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass mich der Babybauch noch weiter in der Bewegung einschränken würde“, erzählt Bernadette Gradl in Professor Debus‘ Büro in Dachau, wo die Rollstuhlfahrerin gerade auf ihren Termin zur Regelvorsorge wartet. „Ich wusste nicht, ob ich überhaupt schwanger werden konnte, ob sich meine Spastik verschlimmern, wie mein Körper die Strapazen von Schwangerschaft und Geburt verkraften würde.“ Doch die Chefärztin habe ihr nicht nur die Angst genommen und sie in ihrem Kinderwunsch bestärkt, sondern sie vor allem zum ersten Mal „richtig untersucht“. Nicht selten teilten ihre behinderten Patientinnen, inzwischen sind es etwa 200 im Jahr, dieses Aha-Erlebnis, berichtet Gerlinde Debus. „Häufig kommen Frauen zu mir, die von den Gynäkologen zuvor nur abgewimmelt worden sind“, sagt die Professorin. Auch Bernadette Gradls erster Besuch bei einer niedergelassenen Gynäkologin war ein Fiasko. „Meine Periode wollte sich nicht einstellen, also bin ich hin. Die Ärztin sagte, ich könne meine Tage gar nicht bekommen. Und dann war doch auf einmal alles voll Blut“, erinnert sich die Münchnerin.

Gerlinde Debus ist überzeugt: Nur in intensiver, langjähriger Arbeit mit behinderten Frauen können Gynäkologen den richtigen Umgang mit ihnen erlernen, sowohl in fachlicher als auch menschlicher Hinsicht. „Sie müssen ihre Kommunikation und ihre Handlungen an jede Frau individuell anpassen“, sagt die Ärztin, die statt anfangs drei inzwischen fünf behinderte Frauen pro Woche behandelt. Dabei sei das Spektrum an Behinderungen immens groß. So könne eine Spastikerin bei Berührung derart verkrampfen, dass man sie kaum noch untersuchen könne. Bei starken Verkrümmungen der Wirbelsäule befänden sich die Organe im Becken oft gar nicht mehr an gewohnter Stelle. Und Frauen mit neurologischen Erkrankung seien indes oft so kraftlos, dass ihnen die Beine vom Stuhl rutschten. „Da muss ich mir schon mal das eine Bein auf die Schulter legen und das andere mit dem Hosenbein am Stuhl festbinden“, erklärt Debus pragmatisch.

Für niedergelassene Frauenärzte seien Patientinnen mit Behinderung kein attraktives Klientel, erklärt Swantje Köbsell von SelbstBestimmt Leben e.V.( Foto: Barbara Schneider)
Für niedergelassene Frauenärzte seien Patientinnen mit Behinderung kein attraktives Klientel, erklärt Swantje Köbsell von SelbstBestimmt Leben e.V.( Foto: Barbara Schneider)

Gefahr für die Gesundheit

Welche fatalen Konsequenzen es hat, wenn Frauen mit Behinderung sich von ihrem Gynäkologen nicht angemessen behandelt fühlen, nur als „Behinderte“, nicht aber als Frau eine Rolle zu spielen scheinen, liegt auf der Hand: Viele schieben einen Frauenarztbesuch so lange wie möglich hinaus, nehmen wichtige Vorsorgetermine nicht wahr. „Das kann etwa für die Früherkennung von Krebs schlimme Folgen haben“, warnt Swantje Köbsell, die seit Jahren in der emanzipatorischen Behindertenbewegung aktiv ist und als Mitglied von „SelbstBestimmt Leben e.V.“ an der Einrichtung der Bremer Spezialambulanz beteiligt war. Die Rollstuhlfahrerin erklärt, wieso niedergelassene Frauenärzte kaum Interesse an der gar nicht so kleinen Zielgruppe behinderter Frauen zeigen: „Sie sind einfach keine attraktive Klientel. Die Behandlung ist oft sehr zeitintensiv und zahlt sich nicht aus, da die Ärzte nur die Standard-Vergütung bekommen.“ Ein barrierefreier Praxisumbau oder auch die Einstellung einer Kraft, die beim An- und Ausziehen sowie beim „Erklimmen“ des Behandlungsstuhls helfen könnte, rentiert sich unter diesen Umständen einfach nicht.

Parallelbericht mahnt Zustände an

Vor diesem Hintergrund fordert die Allianz der deutschen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zur UN-Konvention in ihrem Parallelbericht, den Zeitaufwand für die Behandlung von behinderten Menschen endlich angemessen zu vergüten, berichtet Köbsell. Weiter fordere der Parallelbericht, die Barrierefreiheit einer Praxis zum Zulassungskriterium zu machen sowie ein Modul mit dem Schwerpunkt „behinderte Frauen“ in das Medizinstudium sowie in die Fortbildungen der Ärzte zu integrieren. Nur so könne in der Gynäkologie flächendeckend ein angemessener Umgang mit gehandicapten Patientinnen erreicht werden, glaubt Swantje Köbsell.

Doch so lange dies nicht der Fall ist, können Frauen wie Bernadette Gradl nur von Glück reden, wenn sie in der Nähe einer der wenigen gynäkologischen Spezialambulanzen leben, die sich auf ihre Bedürfnisse eingestellt haben. Gerade wird sie in das geräumige Behandlungszimmer mit dem mehrfach verstellbaren Untersuchungsstuhl, dem Hebelift und dem großen Paravan gerufen. Eine ganze Stunde wird sich Chefärztin Debus nun Zeit für sie nehmen, sie eingehend gynäkologisch untersuchen und beraten. Doch zuerst will die Ärztin wissen: „Wie geht es Raphael? Haben Sie seinen ersten Geburtstag schön gefeiert?“

Susanne Böllert

 

Die fünf gynäkologischen Spezialambulanzen für Frauen und Mädchen mit Behinderung im Überblick:

Berlin: Sowohl sexualpädagogische Angebote als auch frauenärztliche Sprechstunden im Familienzentrum Balance, Mauritiuskirchstraße 3 in 10365 Berlin – Lichtenberg/Friedrichshain, Telefon: 030 23623680

www.fpz-berlin.de/index.php?page=behindertenberatung

Bremen: Barrierefreie Gynäkologische Praxis in der Frauenklinik des Klinikums Bremen-Mitte, Sankt-Jürgen-Straße 1 in 28177 Bremen, Telefon: 0421 3404415

www.kvhb.de/sites/default/files/flyer-gynpraxis.pdf oder https://www.kvhb.de/gynpraxis.php zur Übersicht der behandelnden Ärzte

Dachau: Am HELIOS Amper-Klinikum in Dachau, Krankenhausstraße 15 in 85221 Dachau, Telefon: 08131 76-4298 unter Leitung der Chefärztin Prof. Dr. Gerlinde Debus.

www.helios-kliniken.de/klinik/dachau/fachabteilungen/frauenklinik.html

Erlangen: Barrierefreie Spezialambulanz an der Frauenklinik des Universitätsklinikums Erlangen unter Leitung von Prof. Dr. Matthias W. Beckmann, Universitätsstraße 21/23 in 91054 Erlangen, Telefon: 09131 8533524,

www.frauenklinik.uk-erlangen.de/e1662/e1883/e5573/index_ger.html

Frankfurt: Ärztliche Sprechstunde und gynäkologische Untersuchung bei pro familia Frankfurt am Main, mittwochs ab 14 Uhr in der Palmengartenstraße 14 in 60325 Frankfurt am Main, Telefon: 069 90744744

www.profamilia.de/angebote-vor-ort/hessen/landesverband-hessen/angebot/aerztliche-sprechstunde.html

 

Dieser Artikel erschien im RehaTreff (01/2015).
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