Bei den ersten European Games starten die sehbehinderten Judoka in einem Turnier mit den sehenden Kämpfern. Paralympicssiegerin Ramona Brussig ist deshalb ganz besonders neugierig, auf das, was sie erwartet.
Mit am meisten ist Ramona Brussig auf ihre Mannschaftskameraden gespannt. „Ich kenne die doch alle gar nicht“, sagt sie. Bitte? Die zweimalige Paralympicssiegerin im Judo hat ihre Mitkämpfer im deutschen Team für die ersten Europaspiele in Baku, die am 12. Juni begannen, noch nicht kennengelernt? „Nein, nur die Namen, die sagen mir natürlich etwas, aber persönlich hatte ich noch nicht das Vergnügen“, sagt die 38-Jährige. Und genau das macht für die erfahrene Sportlerin die Premiere der European Games in der Hauptstadt von Aserbeidschan so spannend. Zum ersten Mal überhaupt sind blinde sowie sehbehinderte Sportler im Judo vollkommen in die Wettkämpfe integriert.
Zwar nur in einer Gewichtsklasse, aber immerhin. Das Judoturnier, das erst am 25. Juni beginnt, bietet ein außergewöhnliches Integrationsprojekt im Sport. „Die Wettbewerbe der sehbehinderten Judoka sind eine Bereicherung der ersten Europaspiele und zeigen, welch innovative und exklusive Veranstaltung wir den Sportfans auf der ganzen Welt bieten“, verkündete Simon Clegg, Chief Operating Officer der Spiele. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass der sehbehinderte Judoka und zweimalige Paralympicssieger Ilham Zakiyev ein Sportidol in Aserbeidschan ist, der bei der Eröffnungsfeier sogar als letzter die Fackel tragen durfte. Doch das Wie und Warum des inklusiven Turniers ist Ramona Brussig zunächst egal, sie freut sich auf ihren Wettkampf am 26. Juni: „Das wird auch für die Sehenden vielleicht ganz interessant, damit sie mal erfahren, wie es bei uns im Kampf so zugeht“, sagt Ramona Brussig.
Sie hat bereits als Kind mit Judo begonnen – als sie noch sehen konnte. Ihre Behinderung schritt erst ab dem Teenageralter dramatisch fort. Ramona ist nicht vollständig blind, aber extrem kurzsichtig, sechs Prozent Sehkraft werden noch gemessen. Auch sie muss deshalb vor dem Wettkampf auf die Matte geführt und der Gegnerin auf „Griffweite“ gegenübergestellt werden. „Ich habe von klein auf die Judo-Bewegungen gelernt, die sind jetzt im Kampf voll automatisiert“, erzählt sie, „ich reagiere eben nicht auf das, was ich sehe, sondern was ich an Bewegung bei der Gegnerin spüre.“ Trainer Stefan Saueressig, der sie nach Baku begleitet, meinte einmal: „Die Augen sind beim Judo nicht das Entscheidende. Wichtiger ist, im richtigen Moment instinktiv das Richtige zu tun.“
Bei den Männern kämpfen die Blinden in Baku in der Gewichtsklasse bis 90 Kilogramm, bei den Frauen bis 57 Kilo. Das ist immerhin fünf Kilo über Ramona Brussigs normalem Limit, aber egal. Zwillingsschwester Carmen hatte dagegen keine Chance, in Baku an den Start zu gehen. „Sie kämpft bis 48 Kilo, das geht natürlich nicht“, erklärt Ramona, warum sie diesmal ohne schwesterliche Begleitung zum Wettkampf fährt. 2012 in London gewannen beide praktisch gleichzeitig jeweils die Goldmedaille, die ersten für das gesamte deutsche paralympische Team übrigens. „Das war natürlich ein Traum, etwas ganz Besonderes“, sagt Ramona Brussig, die schon in Athen und Peking Gold und Silber gewonnen hatte und zahlreiche EM- sowie WM-Titel erkämpft hat. Und die nun wie ihre Schwester auch bereits in Richtung Rio schaut: „Ich bin ja auch nicht mehr ganz jung“, lacht sie, „aber es hat gut hingehauen und bis Rio ist es ja auch nur noch ein gutes Jahr.“ Sportlich qualifiziert ist sie praktisch schon und steht auch deshalb im Top Team des Deutschen Behindertensportverbandes.
„Diese Förderung hilft mir natürlich sehr, meinen Sport auszuüben. Dazu habe ich einen idealen Arbeitgeber, der mich auf allen Ebenen unterstützt.“ Beim Landessportbund Mecklenburg-Vorpommern ist sie als Sportkauffrau angestellt. Hat eine 20 Stunden Woche und die Freiheit, sich die Zeit nach den Anforderungen der Lehrgänge oder Wettkämpfe frei einzuteilen. „Meine Kollegen helfen mir auch sehr, es ist ideal“, schwärmt Ramona Brussig: „Leider haben viele andere Athleten dieses Glück nicht. Da gibt es schon einige Zwänge mit Job und Studium.“
Die Europameisterschaft im November ist ihr nächstes, großes sportliche Ziel. Baku ist nur eine schöne und aufregende Zugabe. „Ich war vor Jahren schon einmal dort, jetzt bin ich ganz gespannt.“ Auf die Stadt, den integrierten Wettkampf mit den Sehenden – und auf ihre „neuen“ deutschen Mannschaftskameraden.