In der Agentur Liberty gibt es keine Berührungsängste
Durch die UN-Behindertenrechtskonvention wird eine eigentlich selbstverständliche Feststellung immer lauter: „Jeder Mensch braucht Liebe – und Sex!“ Behinderte Menschen haben nicht nur die gleiche Lust, sie haben auch das gleiche Recht, diese Lust auszuleben. Und man muss die Möglichkeiten schaffen, dass das auch funktioniert.
Einige Kinofilme näherten sich, durch die öffentliche Diskussion ermutigt, in den vergangenen Monaten diesem Thema ebenfalls an, zum Beispiel der belgische Kinohit „Hasta la Vista“ , in dem drei junge behinderte Männer gegen den Willen ihrer Eltern nach Spanien aufbrechen, um dort in einem Bordell das erste Mal Sex zu haben. Doch so weit wie die drei Jungs im Film muss Mann gar nicht fahren. In Berlin gibt es die Agentur Liberty, die, zumindest männlichen Freiern mit Behinderung, schöne Momente verschafft.
„Wie soll der denn Sex machen?“, war Kerstin „Maxi“ Berghäusers frühere Reaktion, wenn sie einen Mann im Rollstuhl sah. Erst durch ihre Erfahrungen hat sie gelernt, dass jeder Mensch einen Wunsch nach Sexualität hat. Maxi war früher selbst Prostituierte, heute ist sie Inhaberin der „Agentur Liberty“, einem Bordell in Berlin. Das Besondere des Etablissements: Die komplette erste Etage ist barrierefrei. Extra große Suiten, breite Türen, ein Bad mit breiter Dusche, Duschstuhl und Rutschbrett, eine Toilette mit beidseitigem Handlauf und ein unterfahrbares Waschbecken mit einer Vertiefung im vorderen Bereich verbergen sich in dem plüschigen Reich der Lust. Sogar einen Pool mit Hebevorrichtung gibt es. Eine Hausdame holt den Gast an der Eingangstür ab und begleitet ihn vom Lift bis ins Zimmer, während der Assistent in einem Besucherraum warten darf. Ab 40 Euro geht es los. Dafür gibt es 20 Minuten Verkehr, inklusive französischem Vorspiel.
Dankbarer als die anderen Freier
40 bis 50 Mädchen arbeiten in verschiedenen Schichten im „Liberty“, etwa zehn bis 15 davon verwöhnen auch Kunden mit Behinderung. Inhaberin Maxi trägt diesen Wunsch an ihre Mädchen heran. Dass dies erst einmal ungewohnt sein kann, weiß sie aus eigener Erfahrung: Ihr „erstes Mal“ war mit einem Kriegsversehrten, der ihr vorher nicht gesagt hatte, dass er eine Behinderung hat – plötzlich stand das Holzbein neben dem Bett. „Na, das hättest Du mir aber vorher mal sagen können, oder?“, war ihre Reaktion. Seine Antwort: „Dann hättest Du mich abgelehnt.“
Durch dieses Schlüsselerlebnis setzte bei Kerstin Berghäuser ein Umdenken ein. Am Anfang war es hauptsächlich Mitleid, das sie mit Kunden mit Behinderung schlafen ließ, doch später baute sie auch einen persönlichen Bezug zu ihren Gästen auf. Sie brachte sie nicht mehr länger nur mit ihrer Behinderung in Verbindung. Ihre Kunden waren damals Kriegsversehrte, Contergangeschädigte, Kleinwüchsige, auch ein blinder Mann, der sich Maxis Körper von seinem Pfleger beschreiben ließ. „Ganz ehrlich, ich bin damals gerne mit Behinderten aufs Zimmer gegangen“, gibt sie zu. „Ich hatte den Eindruck, dass sie viel dankbarer waren, als die anderen Freier. Wenn die Session vorbei war, habe ich gemerkt: Du hast etwas Gutes getan“, erzählt sie.
Antrag auf Bordellbesuch ist eine Hemmschwelle
Dank Werbung im Internet, Anzeigen und Mund-zu-Mund-Propaganda in Wohnstiften kommen mittlerweile zehn Stammgäste mit Behinderung in die „Agentur Liberty“. Daneben gibt es viele Kunden, die das Etablissement nur einmalig oder unregelmäßig besuchen. In die „Agentur Liberty“ kommen Gäste mit und ohne Behinderung. „Behinderte Freier merkt man sich aber viel eher – einfach, weil man mehr von dem Gast aufnimmt und mehr von sich selbst gibt. Das ist eine ganz intensive Beziehung“, erläutert Maxi. Sie kennt alle Bordellbesucher persönlich, vom jungen Querschnittgelähmten, der einen Motorradunfall hatte, über den Heimbewohner, für den das Pflegepersonal für einen Bordellbesuch zusammengelegt hat, bis zu dem sprachbehinderten Gast, bei dem Block und Stift genauso selbstverständlich neben dem Bett liegen wie Feuchttücher und Kondome.
„Wir sind eigentlich für alles offen“, sagt Kerstin Berghäuser. Allerdings wird mit steigendem Grad der Behinderung die Auswahl der Mädchen immer geringer. Mit einem querschnittgelähmten Mann ins Bett zu gehen, können sich noch alle Mädchen vorstellen, bei einem Kunden mit Glasknochen sind es hingegen nur noch zwei bis drei Mädchen, die keine Berührungsängste kennen. Als ein Mal ein Kunde mit Beatmungsschlauch im Bordell stand, wurde es plötzlich ganz ruhig. „Was, wenn ich ihm aus Versehen die Luft abdrücke, was, wenn der Schlauch irgendwie reißt?“ Erst nach einigem Zögern fand sich dann doch ein Mädchen, dass das Wagnis einging.
Von der Krankenschwester zur Prostituierten
Eine der Frauen, die sich fast alles zutrauen, ist Marlene. 20 Jahre lang arbeitete sie als Krankenschwester. Das maschinelle, fabrikmäßige an ihrem Job und dass sie keine Zeit für die Patienten hatte, belastete sie mit der Zeit. Das alles konnte sie irgendwann nicht mehr länger mit sich selbst vereinbaren, und sie ging in die Prostitution – freiwillig und ganz bewusst. „Meinen Körper verkaufe ich gerne, aber nicht meine Seele“, sagt sie. Berührungsängste oder Befürchtungen, etwas falsch zu machen, kennt sie nicht. „Ich sage gleich zu Beginn immer: Für mich ist nix ein Problem. Ich war Krankenschwester, also mach Dir keinen Kopf und lass Dich einfach verwöhnen. Dadurch können sich die Gäste besser fallen lassen“, erzählt sie und leckt sich über die knallroten Lippen. Wenn Marlene von ihren Kunden spricht, dann tut sie das liebevoll, auch wenn sie manchmal harte Worte findet: „Mein Gast mit Glasknochen ist wirklich extrem klein, babyklein, nicht mal ’nen Meter groß, und die Arme und Beine sind im Zickzack zusammengewachsen – so!“, zeigt sie und verrenkt dabei ihre Arme. „Als ich ihn das erste Mal sah, war selbst ich geschockt.“ Das Optische spiele für sie jedoch weniger eine Rolle, als die Sympathie und die Ausstrahlung eines Menschen. „Und die Augen – die können nämlich die Seele berühren“.
Ikea-Kisten im Pool
Mittlerweile ist ihr Freier mit Glasknochen zu einem ihrer Stammgäste geworden, und die beiden sind ein eingespieltes Team. „Das ist ein toller Mensch. Ich bin richtig stolz, dass ich ihn kenne, und ich ziehe den Hut vor dem, was er schon in seinem Leben geleistet hat“, sagt sie und nickt so enthusiastisch, dass ihre D-Oberweite fast aus dem engen, schwarzen Spitzenkorsett fällt. Seit fast vier Jahren kommt er regelmäßig zu ihr, die beiden können sich auch gut unterhalten und miteinander lachen, wenn einmal etwas nicht so klappt, wie gewollt. Zum Beispiel bei dem Versuch, zusammen im Pool zu baden. Der Sitz der Hebevorrichtung ist zu groß und deshalb wird der Gast kurzerhand in den Pool getragen. Dort wartet das nächste Problem: Wie machen wir das, damit er nicht ertrinkt? Behelfsmäßig bauen sie sich einen Sitz aus Ikea-Kisten, doch der Kunde ist zu leicht und die Plastikkisten treiben immer wieder an die Oberfläche. Letztlich bleibt das Wasser knöcheltief, und der Freier kuschelt sich einfach bei Marlene auf den Bauch – die perfekte Position. Wenn Marlene über ihre sexuellen Begegnungen mit ihren behinderten Freiern berichtet, dann klingt das zärtlich und einfühlsam, auch wenn ihre Reibeisenstimme im Berliner Dialekt vor sich hin poltert.
Die Eltern durften nichts erfahren
Vanessa arbeitet auch im Liberty. Sie erinnert sich noch gut an ihren 20-jährigen Kunden mit Behinderung, der sich immer heimlich mit ihr traf – seine Eltern durften nichts davon erfahren. „Das war ein echtes Highlight. Der war total niedlich und auch ein wenig verknallt in mich. Wir hatten einfach einen krassen sozialen Kontakt, haben uns über Bücher und Filme unterhalten“, erzählt sie und gerät fast ein bisschen ins Schwärmen. Am Anfang habe sie schon etwas Angst vor seiner Behinderung gehabt. Angst davor, ihn zu verletzen oder etwas falsch zu machen. „Man muss letztlich einfach mit Offenheit dran gehen, dann kann man auch etwas Spannendes zurückbekommen und etwas richtig Schönes erleben. Jeder Mensch hat doch etwas Attraktives, und wenn dann noch das Menschliche passt, kann man auch besonders guten Sex miteinander haben.“
Man kauft keine Liebe, man kauft Sex
Und trotzdem, aus reiner Menschenliebe macht das hier keiner. Die plüschig-romantische Atmosphäre des Libertys kann nicht darüber hinwegtäuschen: Man kauft keine Liebe, man kauft Sex. Sophie findet deutlichere Worte als ihre Kolleginnen. Sie geht ebenfalls mit Gästen mit Behinderung ins Bett – „aus reiner Geldgier“, wie sie selbst sagt. „Die Freier hier finde ich persönlich alle nicht attraktiv. Dass jemand dann auch noch behindert ist, kann ich ganz leicht ausblenden. Das stößt mich nicht ab“, sagt sie und dreht gedankenverloren an ihren dunklen Locken. „Meistens wollen die eh nicht so viel, ’n bisschen streicheln, bisschen kuscheln – mehr geht ja oft nicht.“ Während ihre Kolleginnen davon erzählen, wie sensibel und einfühlsam ihre behinderten Freier im Vergleich zu den anderen Kunden sind, kann Sophie darüber nur lachen.
„Ach ja, unsere behinderten Gäste wollen immer hören, dass sie ja so besonders und spannender als unsere anderen Kunden sind, aber die Wahrheit ist: Da sind auch ganz schöne Arschlöcher dabei!“ Der bezahlte Sex mit den Freiern mit Behinderung sei zeitaufwändiger und deshalb weniger lukrativ. Außerdem käme sie sich dabei oft vor, wie eine Art Krankenschwester, meint sie. „Es gibt Spaßigeres“, sagt sie trocken und ihre tiefschwarz mit Kohl umrandeten Augen verlieren sich im Raum. „Aber ich hab schon Mitleid mit den Leuten. Wir haben da zum Beispiel so ’nen Typen mit Contergan-Ärmchen, der kann sich ja noch nicht mal selbst anfassen. Ich meine: Wie schrecklich muss so ein Leben sein?“
Verena Zimmermann
Infokasten
Agentur Liberty, 2. OG Martin-Luther-Str. 14, 10777 Berlin-Schöneberg, nahe dem Kadewe. Parkplätze hinter dem Haus, U-Bahnhöfe: Wittenbergplatz, Viktoria-Luise-Platz, Buslinie M 46, M 19. Öffnungszeiten: Montag – Freitag 10.00h – 22.00h, Sa/So und feiertags 12.00h – 20.00h, Tel. Infoband 2110702
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