Sommercamp für Kinder mit Amputation

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Foto: Daniel Jüptner | 8pm.de

Eine Woche alles nur nicht behindert.

Sie wollten nur das sein, was ihnen sonst des öfteren verwehrt wird: Kind sein, mit allem Unbeschwerten was dazu gehört. Hierzu hatten die rund 30 Kinder und Jugendlichen mit Arm- und Beinamputationen oder angeborenen Gliedmaßenfehlbildungen beim ersten bundesweiten Jugendcamp in der Wedemark Gelegenheit.

Veranstaltet wurde es vom Bundesverband für Menschen mit Arm- oder Beinamputation e.V. (BMAB). Dieser konnte sich für das in Deutschland bisher einzigartige Projekt die Unterstützung zahlreicher Freizeiteinrichtungen, Sponsoren und ehrenamtlicher Helfern sowie Projektförderungen der Techniker-Krankenkasse und der Sparkasse Hannover sichern und den Kindern zwischen acht und 17 Jahren eine nach ihren Worten „unvergessliche Woche“ bescheren. Denn niemand hätte damit gerechnet, dass in einem solchen Camp ein fordernder Hochseilgarten, eine Kanufahrt oder das Trainieren mit Paralympics-Sportlern wie Junioren-Weltmeister Leon Schäfer auf dem Programm stehen würde.

Die Kinder mussten teils überraschend nach Krankheit oder tragischen Unfällen amputiert werden, oder sie kamen bereits mit Gliedmaßenfehlbildungen zur Welt. Den Kindern wurde dabei öfters über Jahre vermittelt, was sie alles nicht können – nur hat man sie dies vorher nie selbst ausprobieren lassen. So versuchte sich die kleine Michelle mutig im Klettergarten. Das Mädchen erkrankte völlig unerwartet als Baby an einer Meningokokken-Sepsis. „Innerhalb von Stunden verlor Michelle beide Unterschenkel und den rechten Arm, überlebte gerade noch. Davon ist nichts zu merken wenn man sie in den Bäumen beobachtet“ wie Dieter Jüptner, Präsident des BMAB anmerkt. Wären da nicht die Prothesen, mit denen sie sich durch die Hindernisse hangelt. Solange, bis sie keine Lust mehr hat, die Prothesen ablegt und sich am Seil hängend durch den Parcours ziehen lässt.

Was zu einer weiteren Herausforderung in solch einem Camp führt: abends den Kindern die vergessenen Gliedmaßen auf dem Gelände einsammeln und aushändigen. Denn zum Klavierspielen, Bogenschießen und Pizzabacken werden diese abgelegt. „Ich brauche keine Hände, ich kann alles auch so machen, spiele sogar mehrere Instrumente“ so der 14-jährige Sinan völlig selbstsicher, während er wie selbstverständlich ohne Hände sich ein Brötchen nimmt und es aufschneidet. Wie er das macht? Als wäre es normal. Er fühlt sich auch normal. Zudem haben die Prothesen manchmal auch ganz andere, vernachlässigbar erscheinende Probleme: Lack hält auf ihnen nicht perfekt. Erstmal kein Problem, zumindest solange, bis man als 13-Jähriges Mädchen „dazugehören“ möchte und merkt, dass Nagellack auf den Prothesen nicht hält und man diese aus Scham nicht trägt. Hier hilft eine neue Beschichtung Wunder, was die Akzeptanz einer Heranwachsenden angeht.

Ein Ziel des Camps war es, die Kinder zusammen zu bringen. So hatten fast alle das erste Mal seit ihrer Amputation oder Krankheit Kontakt zu anderen Kindern, welche auch amputiert waren. Eine Erfahrung, die ihnen bereits in der Reha nach einer Amputation fehlt, sind doch viele der Patienten dort eher deutlich betagter. So kam es zu einem regen Erfahrungsaustausch unter den Kinder.

Ein weiteres Ziel war es aber auch, den Kindern aufzuzeigen, dass sie eben doch viel mehr machen können als man ihnen manchmal zutraut. So flog der Tauchlehrer Henning Fahrenholz extra von den Kanaren ein um den Kindern das Flaschentauchen im örtlichen Freibad beizubringen. Zu einem gemeinsamen Sporttag konnte man die Unterstützung einer Delegation vom Para-Taekwondo-Team um Cesar Valentim aus Wien, der Leichtathletik Abteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen mit Leon
Schäfer und Trainerin Constanze Wedell und des Behinderten-Sportverband Niedersachsen (BSN) mit Trainern für Rollschuh-Basketball und Badminton sichern.

Auch kamen die führenden Prothesen-Hersteller zum gemeinsamen Sport-Tag um mit Unterstützung ihrer Techniker den Kindern das Probieren verschiedener Sportprothesen zu ermöglichen.
Während der einen Woche kümmerten sich insgesamt zehn Betreuer um die Kinder. Da man in Deutschland noch keine Erfahrung mit solch einem Camp hatte, schickte der BMAB im letzten Jahr zur Vorbereitung zwei junge Mitarbeiter in die USA zur Teilnahme am dortigen Jugendcamp der Amputee Coalition. Diese, wie auch die meisten anderen Betreuer aus dem ganzen Bundesgebiet sind selber amputiert oder hatten beruflich mit Amputierten zu tun. Viele konnten zudem auf umfangreiche pädagogische Erfahrung zurückgreifen.

Zusätzlich wurde das Team unterstützt durch eine Physiotherapeutin, einen Sanitäter und den namhaften Orthopädietechniker Andreas Rulitschka, der sich ehrenamtlich um die beispielsweise beim wilden Fußballspielen zerborstenen Carbon-Prothesen kümmerte – und es erstaunt, wie viel Material in solch einer actionreichen Woche mit Kindern verschlissen wird.
Auch im nächsten Jahr wird das Camp wieder stattfinden. Dann traut man sich auch zu, etwas zu wachsen: „50 Kinder hoffen wir im nächsten Jahr aufnehmen zu können“, so Detlef Sonnenberg, Vizepräsident des Bundesverbands BMAB .

„Damit wir es auch wieder bundesweit allen Kindern anbieten können, stehen wir schon in den Verhandlungen mit den Kultusministerien um in einigen Bundesländern eine Verlängerung der Ferien um wenige Tage zu erhalten“. Interessierten Eltern und Mitarbeitern steht der BMAB für das nächste Jahr gerne Rede und Antwort.

Der Bundesverband dankt allen Sponsoren und Förderern, die es ermöglicht haben, das Camp für alle Teilnehmer ohne Kostenbeteiligung durchzuführen. Hierzu gehört die Gemeinde Wedemark und die Freiwillige Feuerwehr, die die Kinder in der Woche kostenlos zu den Aktivitäten begleitet haben, die Kastanien-Apotheke, die das Camp mit zahlreichen Sanitäts-Materialien ausgestattet hat, Sportler des Sportvereins Bissendorf, der REWE-Markt Zwingmann in Mellendorf, Reiterinnen mit Pferd und Pony aus Bissendorf, das Friederikenstift Hannover, das die Gehschultherapeutin Simon für den Sporttag freigestellt hat sowie die Prothesen-Hersteller endolite, Freedom Innovations, Össur, ottobock und Teufel.

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