Rostocker Erklärung der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern:
Umsetzung noch in dieser Legislaturperiode
Die gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) als verbindliches Menschenrecht verankert worden. Die Reformvorhaben für das Teilhaberecht, die Eingliederungshilfe und die Pflegeversiche-rung müssen im Licht dieser Konvention angelegt und vollzogen werden.
Die geltenden gesetzlichen Regelungen für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen erfüllen nur bedingt die grund- und menschenrechtlichen Anforderungen zu unabhängiger Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft (Art. 19 UN-BRK). Teilhabe- und Pflegereform müssen von den Selbstbestimmungs- und Teilhaberechten der Menschen mit Pflegebedarf und Behinderungen her gedacht werden. Die Beauftragten für Menschen mit Behinderungen von Bund und Ländern fordern für diese Reformen:
- Der Mensch im Mittelpunkt: Das Recht auf Teilhabe und unabhängige Lebensführung gilt auch bei Pflegebedürftigkeit. Das verlangt einen Wandel von Teilhabe, Pflege und Betreuung. Teilhabe- und Pflegeleistungen dürfen nicht einrichtungszentrierte Leistungen sein. Sie müssen sich auf die Person und ihren individuellen Bedarf richten. Nicht etwa das Wohn- und Pflegeheim soll den Bedarf vorgeben, sondern selbstbestimmt die Men-schen mit Behinderungen. Der persönliche Bedarf ist trägerübergreifend in einem gesetz-lich geregelten bundeseinheitlichen Verfahren zu ermitteln.
- Teilhabe- und Pflegereform verbinden: Menschen mit Behinderungen können auch pflegebedürftig sein, wie pflegebedürftige Menschen in der Regel auch – häufig sogar schwerbehindert sind. Die Reform des Teilhaberechts muss aber alle behinderungsbe-dingten Unterstützungsbedarfe ganzheitlich abdecken. Die Trennung zwischen Eingliederungshilfebedarf und Pflegebedarf ist zu überwinden. Auch Pflege muss sich auf Teilhabe ausrichten und ihr dienen. Das kann nur gelingen, wenn Teilhabe- und Pflegereform zeitlich und durch ein Gesamtkonzept inhaltlich verbunden werden. Das muss noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden.
Umfassendes und abschließendes Teilhaberecht außerhalb der Sozialhilfe: Men-schen mit Behinderungen sollen Leistungen außerhalb des Sozialhilferechts erhalten – auch bei hohem Pflegebedarf. Menschen mit Behinderungen dürfen für ihren Pflege- und Teilhabebedarf nicht weiter auf die Fürsorge als letzte Stufe der sozialen Sicherung an-gewiesen sein. Sämtliche behinderungsbedingten Leistungen – auch die zur Pflege – müssen umfassend, abschließend und zusammengefasst getragen werden.
- Keine Anrechnung von Einkommen und Vermögen: Für Menschen mit Behinderungen, die auf Eingliederungshilfe beziehungsweise auf künftige Teilhabeleistungen oder ergänzende Leistungen wie die Hilfe zur Pflege zur gesellschaftlichen Teilhabe angewiesen sind, müssen diese Leistungen ohne Anrechnung des eigenen Einkommens und Vermögens erbracht werden. Sonst wird sich die Lebenssituation der auf Teilhabeleis-tungen angewiesenen Menschen mit Behinderungen nicht verbessern.
- Pflegeversicherungsleistungen voll in das persönliche Budget aufnehmen: Zur vollständigen Einbeziehung der Leistungen der Pflegeversicherung in das trägerübergreifende persönliche Budget gehört auch, Leistungen aus der Pflegeversicherung nicht mehr als Gutscheine zu gewähren, sondern als gleichwertiges Teilbudget – wie bei allen anderen Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen auch. So werden Selbstbestimmung und Wahlmöglichkeiten der Menschen mit Behinderungen gestärkt.
- Wahlrecht ermöglichen: Der Vorrang der ambulanten Leistung gilt in der Sozialhilfe derzeit nur eingeschränkt. Das Wunsch- und Wahlrecht zwischen ambulanten und stationären Teilhabeleistungen auf der Basis des im SGB IX geregelten Wunschrechts muss auch für die ambulanten und stationären Pflegeversicherungsleistungen wirksam werden. Dazu sind die ambulanten und stationären Pflegeversicherungsleistungen anzugleichen.
- Volle Pflegeleistung in stationären Einrichtungen: Menschen mit Behinderungen müssen in stationären Einrichtungen die vollen Leistungen der Pflegeversicherung zur Verfügung stehen. Der begrenzte Pauschbetrag ist abzuschaffen.
- Neuen Begriff für Pflegebedürftigkeit und neues Begutachtungssystem zügig einführen: Wir brauchen einen neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit, der stärker auf Teilhabe ausgerichtet ist. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff soll sich an den Kriterien der Internationalen Klassifikation (ICF) der WHO orientieren. Entsprechend müssen die Be-gutachtungssysteme umgehend angepasst werden.
- Beratungsangebot umbauen und stärken: Das Beratungsangebot aus Pflegeberatung, Pflegestützpunkten und Gemeinsamen Servicestellen ist wohnortnah zusammenzufas-sen und mit Kompetenzen und Ressourcen zu stärken. Das sollte sozialrechtsübergrei-fend im Ersten Teil des Sozialgesetzbuches geregelt werden. Es soll Bestandteil der kommunalen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sein – wie zum Beispiel in der kommunalen Teilhabeplanung und in den Aktionsplänen.
- Wohnen im Quartier und nicht in der stationären Großeinrichtung: Aus wirtschaftlichem Interesse werden neue Pflegeeinrichtungen gebaut, die zu Überkapazitäten an stationären Pflegeplätzen führen. Hier besteht die Gefahr, dass Menschen mit Behinderungen mit Teilhabe- und Pflegebedarf in Pflegeeinrichtungen gedrängt und aus ihrem ge-wohnten Lebensumfeld gerissen werden.
Wir wollen die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen mitten im Quartier in ei-nem inklusiven Sozialraum. Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, dass Unter-stützungsdienste und persönliche Assistenz gemeindenah erbracht werden und Men-schen mit Behinderungen nicht gezwungen werden dürfen, in besonderen Wohnformen zu leben.