„Ich bin der Stärkste in meiner Klasse!“
Der Motor heult auf, die Räder graben sich in den Schlamm, Dreck spritzt in alle Richtungen. Wenn Theo mit seinem Quad übers Gelände brettert, ist er ganz in seinem Element. Dann kann ihn nichts mehr aufhalten. Ohne Scheu rast er auf einen Hügel zu und lässt sein Doppelmotorrad darüber springen. Kurze Zeit schwebt er frei in der Luft.
Für Zuschauer des Spektakels ist erst auf den zweiten Blick erkennbar, dass der Achtjährige Theo Garthe ohne Beine auf die Welt kam. Das Quad wurde eigens für Theos Bedürfnisse umgebaut. Für einen besseren Halt bekam er eine gepolsterte Sitzerhöhung. Natürlich dürfen der Helm, ein Nackenschutz und eine Motorradjacke nicht fehlen. Ein ganz ungefährlicher Sport ist das Quadfahren nicht.
Ein seltener Gendefekt
Verantwortlich für Theos Behinderung ist der seltene Gendefekt Phokomelie. Einerseits kann es dadurch dazu kommen, dass durch das Fehlen der langen Röhrenknochen die Hände direkt an den Schultern und die Füße direkt an der Hüfte sitzen, ähnlich wie z.B. bei Contergan-geschädigten Menschen. Oder andererseits, wie in Theos Fall, sind Gliedmaßen gar nicht oder nur rudimentär angelegt.
Sabine und Axel Garthe versuchten sieben Jahre lang ein Kind zu bekommen. „Eigentlich haben uns die Ärzte schon keine Hoffnung mehr gemacht“, erzählt die heute 36-Jährige. Doch dann eines Tages wurde sie doch schwanger. Das Paar war überglücklich. Im vierten Monat gingen sie zu einer Routineuntersuchung. Eigentlich wollten sie nur wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Erfahren hat das Ehepaar dann, dass ihr Junge keine Beine haben wird. „Schön ist anders“, beschreibt der heute 43-jährige Axel Garthe seine Gefühle. „Der Moment war eine große Verunsicherung für mich.“ „Das war am Anfang schon schlimm. Wir wussten ja gar nicht, was auf uns zukommt“, ergänzt seine Frau.
Ein Schwangerschaftsabbruch kam nicht in Frage
Die Ärzte klärten beide über ihre Möglichkeiten auf. Doch ein Schwangerschaftsabbruch kam für sie nie in Frage. „Wir denken, dass jedes Leben wirklich lebenswert und von Gott gewollt ist “, erklärt Axel Garthe ihre Entscheidung. Theo hat seinen Namen nicht von ungefähr. „Theodor“ ist griechisch und bedeutet übersetzt „Geschenk Gottes“.
„Für uns ist der Alltag ganz normal. Wir kennen ihn ja nicht anders“, bringt Sabine Garthe ihre Situation auf den Punkt. Theo brauche zwar hier und da ein wenig Hilfe, was andere Kinder vielleicht nicht benötigten. Zum Beispiel könne er im Haushalt nicht so viel helfen. „Ich kann jetzt nicht einfach mal sagen, geh schon mal den Tisch decken oder räum schon mal die Spülmaschine aus“, erklärt Sabine Garthe. Doch darüber ist Theo gar nicht so traurig 😉
„Wir spüren keine Behinderung“
Doch ansonsten sei Theo im Haus völlig selbständig. „Da spüren wir keine Behinderung“, sind sich die Garthes einig. Der Achtjährige bewegt sich auf den Händen vorwärts, wie andere auf ihren Füßen. Damit er die Türen öffnen kann, sind an den Klinken Seile befestigt. Die Wohnung ist ebenerdig, und Stühle oder Sessel sind für Theo so wie so kein Problem. Als Theo frisch auf der Welt war, gab es für sein Umfeld keinen nennenswerten Unterschied zu anderen Neugeborenen. „Die benutzen ihre Beine ja auch nicht“, sagt Sabine Garthe, „höchstens zum Strampeln.“ Und im Kinderwagen habe er einfach ausgesehen, wie andere süße Babys. Doch dann fing der Junge an mobil zu werden und sich mit den Armen vorwärts zu ziehen. Seine Eltern bauten ihm kurzerhand eine Art Rollbrett. Während andere laufen lernten, flitzte der knapp einjährige Theo damit durch die Wohnung.
Vom Plastiktraktor zum Quad
Die Familie musste erfinderisch bleiben. Für draußen benutzte Theo später einen kleinen Plastiktraktor. Der war so umgebaut, dass er die Pedale mit den Händen bedienen konnte. Ging es allerdings bergauf – und das geht es in der rheinländischen Westerwald-Gemeinde Urbach recht oft – zog ihn Mama Sabine. Da Theo tendenziell natürlich schwerer und schwerer wurde, musste schnell eine andere Lösung her, um dem quirligen Jungen weiterhin Mobilität zu gewährleisten. Etwas Motorisiertes sollte es sein, und die Idee mit dem Quad war geboren. Natürlich benutze er das Gefährt nicht im regulären Straßenverkehr, erklärt sein Vater. Das sei erst möglich, wenn er mal den Führerschein hat.
Da seine Eltern bereits früh bemüht waren, ihrem Sohn ein normales Leben unter Gleichaltrigen zu ermöglichen, besuchte der Junge einen Regelkindergarten im Nachbarort. „Eigentlich war es kein Thema“, erinnert sich sein Vater, „Theo war super integriert, die Erzieherinnen hatten Spaß daran. Theo hatte Spaß, und die anderen Kinder konnten wirklich daran wachsen, weil sie einfach auch Geduld üben mussten und viel gelernt haben, wie man sich gegenseitig helfen kann. Das war eine gute Erfahrung für den Kindergarten.“
Unterricht in einer herkömmlichen Grundschule
Theo geht mittlerweile in die dritte Klasse einer herkömmlichen Grundschule in Urbach. Zwar hätte es in der näheren Umgebung eine für ihn zuständige integrative Schule gegeben, doch seinen Eltern war es wichtig, dass er weiterhin mit seinen Freunden aus dem Ort zusammen sein konnte.
„Das war eigentlich auch kein Problem“, sagt Sabine Garthe. Die Schule sei ihnen sehr aufgeschlossen begegnet und man habe eigens für Theo notwendige Umbauten, zum Beispiel im sanitären Bereich, vorgenommen. Er besuche auch regulär den Sportunterricht. Könne er eine Übung einmal nicht mitmachen, dann bemühten sich die Lehrer um Alternativen.
Morgens holt ihn seine Freundin und Schulkameradin Kirsy von zu Hause ab. Dann machen sie sich gemeinsam auf den Schulweg. Während des Unterrichts steht Theo ein sogenannter Integrationshelfer zur Seite, der dafür Sorge trägt, dass er Hilfe bekommt, wenn er sie braucht. Zum Beispiel, wenn es darum geht, ein Buch oder Heft aus einem hohen Regal zu holen. Doch meistens hält der Assistent sich beobachtend im Hintergrund. Theo solle weitestgehend selbständig sein, so seine Mutter.
Die positiven Erfahrungen dominieren
Die Kinder in seiner Schule haben sich an den Jungen ohne Beine gewöhnt. Nur wenn Erstklässler kommen, die so etwas noch nie gesehen haben, dann werde er manchmal schräg angeguckt. Das sei ihm dann schon unangenehm, erklärt der Achtjährige. Theo bespricht seine Gefühle dann mit seinen Eltern. Die trösten ihn nicht nur, sondern erklären ihm auch ganz sachlich, dass es ja normal sei, dass die Kinder ihn erst einmal neugierig angucken. Doch im Großen und Ganzen überwiegen für Theo die positiven Erfahrungen mit seinen Mitmenschen.
„Ich bin der Stärkste in meiner Klasse!“, sagt Theo stolz und meint damit, dass er im Armdrücken gegen Gleichaltrige immer gewinnt. Da er das Gehen quasi mit den Händen erledigt, sind seine Armmuskeln überdurchschnittlich stark ausgebildet. Nur sein Papa besiegt ihn noch im Zweikampf. „Aber nicht mehr lange!“, sagt Axel Garthe lachend.
Theos Eltern sind Sozialpädagogen. Sie haben sich bei der Arbeit mit Behinderten kennen gelernt. Der Umgang mit ihrem Sohn war für sie nie etwas Außergewöhnliches. „Uns haben schon einige Leute gesagt, dass sich Theo seine Eltern vielleicht ausgesucht hat!“, erzählt Sabine Garthe lachend. Ein anderes Paar wäre mit der Situation vielleicht völlig anders umgegangen. „Wir haben immer wieder versucht, Theo für seine Situation zu sensibilisieren. Wir wollten nichts totschweigen, nur um dann irgendwann ein traumatisiertes Kind zu haben“, beschreibt Axel Garthe ihre Bemühungen.
In der Schule und zum Einkaufen oder für Ausflüge mit seinen Eltern benutzt Theo einen Rollstuhl. Im Haus oder in der näheren Umgebung ist der Junge auf seinem Skateboard unterwegs. Darauf kann er sogar einen Handstand machen. „Mein Rekord liegt bei über drei Minuten auf den Händen stehen“, erzählt er grinsend.
Traumberuf Kfz-Mechaniker
Im kommenden Jahr steht für Theo der Wechsel auf eine weiterführende Schule an. Welche das sein wird, hängt von mehreren Faktoren ab. Einmal natürlich von Theos Leistungen und zum anderen wie die räumlichen Gegebenheiten sein werden. Auf die Frage, was Theo später einmal werden möchte, erklärt er ganz bestimmt: „Quad-Trainer oder Kfz-Mechaniker.“ Letzteres kann sich auch sein Vater gut vorstellen. „Mich würde es freuen, wenn er ein Schrauber wird.“ Schließlich haben sie die eine oder andere Zündkerze auch schon gemeinsam ausgewechselt. „Ich finde es gut, wenn er Ideen und Träume hat, was er einmal werden möchte“, ergänzt sein Vater.
Theos großes Vorbild ist der Australier Nick Vuijcic. Der 29-Jährige kam ebenfalls mit einem seltenen Gendefekt auf die Welt. Doch Nick hat weder Beine noch Arme. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund seiner schweren Behinderung arbeitet Nick Vuijcic seit vielen Jahren als Motivationstrainer. Theo hat den Erfolgsautor auf einer dessen Vortragsreisen kennen gelernt. Nick schenkte dem Jungen ein Buch mit einer Widmung, das Theo heute noch stolz in Ehren hält. „Nick weiß wirklich wie ich mich fühle“, sagt Theo nachdenklich,„Jemand anderes weiß das ja nicht…“.
Jennifer Gilliar
Die Landesschau Rheinland-Pfalz hat über den jungen Quad-Fahrer Theo Garthe ein Video veröffentlicht: