Die Münchner Pfennigparade – Wohnen, Lernen, Arbeiten

Münchener Pfennigparade
Charlotte Hoelbe ist Smirage-Fan. In ihrem Büro hängen Werke der Künstlerin Sissy Müllner (Foto: Susanne Böllert)

Als vor knapp 62 Jahren die Bürgerinitiative Pfennigparade im Münchner Norden Spenden für Polio-Erkrankte eintrieb, war nicht absehbar, dass sie einmal zu den größten Rehabilitationszentren für körperbehinderte Menschen in Deutschland zählen würde. Aufgegliedert in die Bereiche Lernen, Arbeiten, Wohnen sowie Medizin und Therapie, hilft die Stiftung heute über 1500 Menschen, ein möglichst selbstbestimmtes Leben inmitten der Gesellschaft zu führen. Inklusion, wie sie die UN-Konvention fordert, wurde hier schon gelebt, lange bevor es den Begriff überhaupt gab.

Charlotte Hoelbe, Geschäftsführerin der Werkstätten für körperbehinderte Menschen (WKM), sieht täglich, wie Inklusion – verstanden als selbstverständliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung – funktionieren kann. Sie sagt: „Wenn die Kinder unserer Mitarbeiter nach einer Woche  in der Ferienbetreuung jede Scheu verlieren und hinten auf den Rollstühlen unserer Werkstatt-Beschäftigen hängen, dann ist das so ein Beispiel.“ Doch weiß Charlotte Hoelbe natürlich, dass das, was für Kinder eine Selbstverständlichkeit ist, in der Erwachsenenwelt nicht immer auf Anhieb funktioniert. Eben darum sei die Arbeit, die die Pfennigparade-Beschäftigten leisteten, von so großer Bedeutung. „Denn in unserer Leistungsgesellschaft finden wir Anerkennung vor allem über die Arbeit“, erklärt Hoelbe, „und diesen Anspruch an ihre Arbeit als Teil des Wirtschaftslebens haben unsere Leute auch an sich selbst. Sie fragen ganz genau nach, wie ihre Beschäftigung aussehen würde, bevor sie sich entscheiden.“ Es sei eben etwas anderes, Holzpuppen zu schnitzen, die vielleicht keiner will, als für große Firmen wie Siemens, BWM, die Münchner Rück oder Pro 7 wichtige Dienstleistungen zu übernehmen.

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Claudia Schnabel, Urgestein und guter Geist der Massendatenerfassung (Foto: Susanne Böllert)

Aufträge von Siemens und BMW
Die Wurzeln der Pfennigparaden-Werkstätten gehen auf die „legendären Zwölf“ zurück: zwölf Behinderte, die vor 40 Jahren bei Siemens an die Tür geklopft haben. Zehn Programmierer auf einmal, ob mit oder ohne Behinderung, konnte der Konzern an seinem Münchner Standort zwar nicht unterbringen, doch vergab er einen zweijährigen Auftrag über die Erstellung eines Zeiterfassungsprogramms. Die Pfennigparade stellte Lochmaschinen in Schrankgröße auf und zog einen Folgeauftrag nach dem anderen an Land. Inzwischen hat BMW Siemens als größten Kunden abgelöst.

Claudia Schnabel zählte zwar nicht zu den „legendären Zwölf“, doch gehört sie bald schon zum Inventar, wie die freundliche Frau über sich selbst scherzt. Seit 37 Jahren arbeitet sie in der Abteilung Massendatenerfassung. Gerade ist sie dabei, die Reisekostenbelege einer großen Firma säuberlich abzuheften. „Außerdem kontrolliere ich die anderen“, erklärt Schnabel selbstbewusst. Das kann sie auch sein, denn wie Michael Bauer, der Abteilungsleiter erklärt, könne man auf eine mit 1,5 Prozent äußerst niedrige Fehlerquote blicken. Doch nicht nur wegen ihrer vorbildlichen Qualitätskontrolle gelte Claudia Schnabel als „Integrationserfolg“, wie Bauer augenzwinkernd sagt, sondern auch, weil sie seit 1976 einen regulären Arbeitsvertrag mit der Pfennigparade hat. Für Werkstattbeschäftigte ist das eher die Ausnahme, in der Pfennigparade jedoch häufig der Fall, in der Abteilung Besondere Werkstatt sogar die Regel.  Rund 220 qualifizierte Menschen mit einer Körperbehinderung arbeiten hier in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen mit marktgerechten Gehältern als Programmierer oder in der Bürokommunikation, sowohl bei den Kundenunternehmen vor Ort, als auch auf internen Arbeitsplätzen in den Räumlichkeiten der Pfennigparade. Die Stiftung hat mit dem Programm  AT WORK eine weitere Schnittstelle zwischen Firmen und Menschen mit Behinderungen geschaffen: Beiden Seiten wird geholfen, einen passenden Praktikanten bzw. einen Praktikumsplatz zu finden.

Michael Bauer ist überzeugt, dass nicht nur die Ausgleichsabgabe und der schmückende Titel „Soziales Unternehmen“ Gründe für die Kunden sind, sich auf dem Ersten Arbeitsmarkt  für die Pfennigparade zu entscheiden. „Wir haben keinen Behinderten-Bonus, dafür können wir Qualität garantieren, dank unserer hervorragend eingearbeiteten Beschäftigten und einer sehr geringen Fluktuation.“

Arbeitsplätze und Wohnungen in der ganzen Stadt
Neben dem Daten- und Dokumentenservice gehören noch ein Lettershop und eine IT-Abteilung zum Angebot der WKM, aber auch traditionelle Werkstätten wie eine Schreinerei, eine Keramikgruppe oder ein Kerzen-Atelier. Ganz bewusst sind die verschiedenen Arbeitsstätten nicht alle im Schwabinger Stammhaus der Pfennigparade untergebracht, sondern über das ganze Stadtgebiet verteilt. Dasselbe gilt für die vielen Wohngruppen für Erwachsene und Kinder. „Auch das ist für uns gelebte Inklusion“, erklärt Pressesprecherin Eva Rosenstein „wenn unsere Beschäftigten und Bewohner im Stadtbild auftauchen, ihren Alltag auch außerhalb der Pfennigparade gestalten. Spielt sich alles nur auf dem Campus ab, ist die Gefahr der Isolation zu groß.“

Doch werden die Bewohner und Beschäftigten der Pfennigparade nicht nur ermutigt, ihren Platz in der Welt der Nicht-Behinderten einzunehmen, sondern auch dazu, diese in ihre Welt einzuladen. Zum Beispiel in das Atelier der GroupeSmirage. Hier weisen behinderte Künstler ihre Besucher, häufig sind das Führungskräfte, in die Malerei ein. Ein Perspektivenwechsel, von dem beide Seiten profitieren.

Auch wenn die Künstler ganz für sich arbeiten, nehmen sie an der Welt „da draußen“ teil. Schließlich werden ihre Werke ausgestellt und vor allem verkauft. „Das tut schon weh, wenn man sein Bild abgeben muss, aber dafür können wir uns ja die ganzen Materialien und vor allem die guten Stühle leisten“, erklärt Beatrice von Arnim, die einmal Grafik oder Malerei studieren wollte und jetzt in der GroupeSmirage ihr (künstlerisches) Zuhause gefunden hat.

Kunst ist Arbeit
„70 Prozent des Arbeitsergebnisses fließen wieder in die Werkstätten zurück“, bestätigt Charlotte Hoelbe die Auflage, wirtschaftlich arbeiten zu müssen. Doch auch wenn die Geschäftsführerin erklärt: „Kunst ist bei uns Arbeit“, tut das der Kreativität in der Malgruppe keinen Abbruch. „Mein Herz hat mir aufgetragen, das zu malen, was ich male“, erklärt von Arnim, die vor vielen Jahren ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hat. Doch nicht nur in der klassischen Malgruppe, wo beeindruckende Portraits, Landschafts- und Tierbilder, aber auch abstrakte Werke in Öl und Aquarell entstehen, herrscht das Selbstbewusstsein vor, in erster Linie Künstler zu sein, statt behindert. Auch in der digitalen Gruppe Mouse Art, wo heute ausnahmsweise nicht am Rechner gearbeitet wird, sondern der gemeinsame Kalender beider Kunstgruppen verpackt wird, bleibt kein Zweifel am gefestigten Selbstbild der Photoshop-Profis. Sebastian Richter, der einmal Koch war und seit drei Jahren zu Mouse Art gehört, sagt: „Natürlich bin ich Künstler. Am liebsten bearbeite ich selbst geschossene Fotos von Menschen, Tieren und Gebäuden.“ Wie viele andere Werkstatt-Beschäftigte, wohnt der 26-jährige Rollstuhlfahrer in einer ambulanten Wohngruppe. Er und seine beiden Mitbewohner leben selbstständiger, als es in einer stationären Wohngruppe möglich wäre. Die drei sind aber nicht ganz auf sich allein gestellt, dank der psychosozialen Betreuung, die mit Kostenträgern verhandelt, Fahrdienste und persönliche Assistenten vermittelt, und einem ambulanten Pflegedienst, der rund um die Uhr angerufen werden kann.

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Bis auf ein Gymnasium hält die Pfennigparade alle Schultypen bereit (Foto: Pfennigparade)

Inklusion so früh wie möglich leben
Die Stiftung Pfennigparade ist in insgesamt 13 Tochtergesellschaften gegliedert. So wird neben dem möglichst selbstbestimmten Leben und Arbeiten auch eine umfangreiche therapeutische Begleitung gesichert. Dank der kurzen Wege auf dem Campus können die Werkstatt-Beschäftigten ihre Therapien und Arztbesuche während ihrer Arbeitszeit absolvieren.

Da Inklusion aber am besten funktioniert, wenn sie so früh wie möglich gelebt wird, bietet die Pfennigparade von der Kinderkrippe über die integrative Grund- und Hauptschule bis zur inklusiven Real- und Fachoberschule Kindern und Jugendlichen jeden Alters die Möglichkeit, gemeinsam und voneinander zu lernen. „Die Warteliste für Kinder ohne Behinderung ist lang“, erklärt Pressesprecherin Rosenstein, „die familiäre Atmosphäre und der gute Betreuungsschlüssel überzeugen viele Eltern von den Vorteilen, die wir in unseren staatlich anerkannten Schulen seit teilweise 30 Jahren anbieten können.“ Mit dem 2004 eröffneten Phoenix-Förderzentrum verfügt die Pfennigparade außerdem über die erste konduktive Schule mit heilpädagogischer Tagesstätte in Deutschland. Kinder mit Cerebralparese werden hier nach dem Lehrplan der Förderschulen konduktiv gefördert, das heißt: Die Trennung zwischen Unterricht und Therapie ist aufgehoben. Pädagogen und Therapeuten arbeiten gemeinsam im Klassenzimmer. „Besonders in der Motorik zeigen sich dadurch große Fortschritte“, sagt Eva Rosenstein.

Ermunterung zur Eigenständigkeit
Und am Ende ist ihr noch ein Detail ganz wichtig: „Zwischen Schule und Arbeit hat die Pfennigparade bewusst eine Lücke gelassen und kein Berufsbildungswerk integriert. Die Menschen sollen, sofern es ihre Einschränkung erlaubt, nach der Schule selbstständig eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz suchen.“ Die Unterstützung der Pfennigparade, zum Beispiel durch den Sozialdienst, sei ihnen immer sicher, ebenso die Arbeitsplatzgarantie in einer der Werkstätten: „Falls es auf dem ersten Arbeitsmarkt doch nicht auf Anhieb klappen sollte“.

Susanne Böllert

Dieser Artikel erschien im RehaTreff 04/2013 und kann hier als PDF heruntergeladen werden.

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