Frau Marx hatte Recht – jedenfalls fast: „Ich spüre: Das wird funktionieren. Die Organisation ist beispielhaft. Es werden zweieinhalb- bis dreitausend Menschen mit Behinderung erwartet, und die Veranstaltung steht klar unter der Prämisse: Alle sollen teilhaben. Also wird geschaut: Was brauchen sie – und die Erfordernisse werden umgesetzt. So muss Inklusion gelebt werden, das ist vorbildlich.“ Ursula Marx, in der Zeit der Vorbereitung auf den 35. Evangelischen Kirchentag Behindertenbeauftragte der Stadt Stuttgart, sparte im Vorfeld der Großveranstaltung nicht mit Lob für die Organisatoren. (Lesen Sie hierzu das Interview mit Frau Marx in Ausgabe 2/2015 des RehaTreff, die am 12. Juni erscheint.) Rückblickend lässt sich sagen: zurecht.
Ein Verdienst der Ausrichter des Kirchentages war es gewiss, den Begriff der Barrierefreiheit weiter zu fassen, als dies in der Wahrnehmung der Allgemeinheit oft üblich ist. Besondere Hilfen für Sehbehinderte und Blinde, Simultanübersetzungen in Gebärdensprache für Gehörlose, leicht verständliche Bild-Hinweisschilder statt der üblichen Piktogramme sowie Simultanübersetzungen in einfache Sprache für intellektuell beeinträchtigte Teilnehmer – all‘ diese Maßnahmen trugen dazu bei, Menschen mit Beeinträchtigungen unterschiedlichster Art die Teilhabe am vielfältigen Angebot des Kirchentages zu erleichtern oder überhaupt erst zu ermöglichen. Dass die verschiedenen Veranstaltungsgelände und –orte durchweg rollstuhltauglich waren, mochte man da schon fast als Selbstverständlichkeit werten. Hinzu kam, dass kaum je ein Mangel an helfenden Händen herrschte, wenn irgendwo Handlungsbedarf bestand. Nun ja – das mag man bei einer Veranstaltung unter Schirmherrschaft der Kirche auch erwarten.
Aller Hilfsbereitschaft setzte zuweilen allerdings die schiere Dynamik des Großereignisses Grenzen. Zu bestimmten Zeiten war für Rollstuhlfahrer die Nutzung vielfrequentierter Stadtbahnlinien (etwa der speziell für den Shuttle zum Wasengelände eingesetzten Linie 11) faktisch unmöglich, weil in die überfüllten Wagen kein Hineinkommen war. Rätselhaft bleibt auch, wie eine an sich bestens organisierte Veranstaltung mit bizarren Erschwernissen ausgerechnet für mobilitätseingeschränkte Teilnehmer aufwarten konnte. So war einer mit Assistenz lebenden Rollstuhlfahrerin zwar der Erwerb einer Eintrittskarte in der Innenstadt möglich, ihre Begleitperson, so wurde ihr beschieden, könne ihre Eintrittskarte aber nur bei der dafür zuständigen Verkaufsstelle an der Hanns-Martin-Schleyer-Halle erwerben. Zum Vergleich: Viele Veranstalter akzeptieren einen Behindertenausweis mit den Einträgen B und/oder H anstandslos als Legitimation für Begleitpersonen. Auch Pressevertretern, die sich nach dem Stichtag für die Versendung der Unterlagen noch akkreditieren wollten, wurde ein Besuch in der Schleyerhalle abgenötigt, wo das Pressezentrum Quartier bezogen hatte.
Begünstigt wurde die Veranstaltung von einer Hochwetterphase, die exakt auf die Dauer des Kirchentages abgestimmt schien. Bei Temperaturen jenseits der 30 Grad wurde ein Streifzug durch den Markt der Möglichkeiten, der in nicht klimatisierten Großzelten stattfand, für viele Teilnehmer, gleich ob mit oder ohne Handicap, deshalb allerdings zum Härtetest für den Kreislauf. Als Ausgleich verführten laue Sommerabende dazu, die Tage mit einem Plausch im Freien ausklingen zu lassen, so dass das Bild der Innenstadt auch weit nach Mitternacht noch ganz im Zeichen der Veranstaltung stand. Die evangelische Kirche als Institution, das machte ein Blick auf das wahrlich weitgefasste und bunte Spektrum aller Angebote und Akteure des Kirchentages deutlich, hat schon viele Barrieren aus vergangenen Tagen überwunden. Bezogen auf das, was man gemeinhin unter Barrierefreiheit versteht, nahm sie in Stuttgart sogar eine Vorreiterrolle ein.
wp