Den Notruf wählen, wenige Minuten später ist der Rettungsdienst da. Wird das auch in Zukunft so sein? Vor allem die explodierende Zahl an Bagatelleinsätzen, in denen kein echter Notfall vorliegt, bringt die Rettungskräfte an ihre Grenzen. Hinzu kommt vieles mehr: hohe Arbeitsbelastung, Bürokratie, Personalfluktuation und rechtliche Unsicherheit. Wohin führt das? Wie sieht die Zukunft des deutschen Rettungswesens aus? Diese Frage hat nun eine groß angelegte Studie untersucht, durchgeführt vom Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien und von der opta data Zukunfts-Stiftung. Mit über 4.000 Teilnehmern aus ganz Deutschland – Notfall- und Rettungssanitätern, Notärzten, Leitstellendisponenten und weiteren Akteuren – ist sie die bislang umfassendste und erste zukunftspsychologische Studie, die jene zu Wort kommen lässt, die täglich Menschenleben retten. Ihr Appell an Politik und Gesellschaft: Es muss endlich mehr getan werden, um die Rettung zu retten.
„Die Rettungskräfte sind hochkompetent, arbeiten aber in einem desaströsen Rettungssystem“, so der Zukunftsforscher und Soziologe Professor Thomas Druyen, der die Studie geleitet hat. „Sie äußern deutliche Kritik an der aktuellen Situation. Gleichzeitig setzen sie große Hoffnungen in die Zukunft des Rettungswesens und entwickeln in unserer zukunftspsychologischen Studie zahlreiche Visionen.“ Die Lage ist kritisch, viele Probleme sind seit Jahren bekannt – und trotzdem ist die Motivation der Rettungskräfte ungebrochen hoch. Dennoch geben 44 Prozent der Befragten an, bereits am persönlichen Limit zu arbeiten. Engagiert erklären 67 Prozent, gern ihrer Arbeit nachzugehen, und 75 Prozent blicken optimistisch in die Zukunft des deutschen Rettungswesens – vorausgesetzt, es wird jetzt ultimativ zukunftsgerichtet gehandelt. Was also schlagen die Rettungskräfte vor?
Der gesellschaftliche Wandel wirkt mit voller Wucht
Die Zahl der Notrufe und Einsätze steigt seit Jahren. 83 Prozent der Befragten sehen die Ursache in gesellschaftlichen Entwicklungen: Die deutsche Gesellschaft wächst nicht nur, sie wird auch immer älter, die Zahl einsamer und mehrfach erkrankter Menschen nimmt zu. Darüber hinaus müssen Rettungskräfte vermehrt auch zu Einsätzen ausrücken, in denen psychische oder soziale Probleme, Alkoholismus oder Drogenmissbrauch die Auslöser sind. Hinzu kommt eine veränderte Mentalität: Viele Menschen geraten bei Beschwerden schneller in Panik, wissen selten, wo sie Hilfe erhalten, oder können ihre Beschwerden nicht mehr so gut einschätzen wie frühere Generationen. Da Hausärzte und ambulante Dienste überlastet sind, wird immer häufiger der Notruf als Ausweg gesehen. Der Notruf ersetzt den Arztbesuch – eine enorme Belastung für die Rettungskräfte, die sich schon längst als Auffangnetz im Gesundheitswesen empfinden.
Den Kollaps verhindern – aber wie?
„Rettungskräfte stehen vor einem Dilemma: auf der einen Seite die Mission und Verpflichtung, bei jedem Notruf mit einer rollenden Intensivstation auszurücken, auf der anderen Seite das Wissen, dass die explodierende Zahl an Bagatelleinsätzen zum Kollaps des Rettungswesens führt“, so Druyen. Eine Lösung sehen die Befragten in einer besseren Patientensteuerung: In einer digitalen, mit Krankenhäusern und anderen Einrichtungen vernetzten Notrufleitstelle – einem „Single Point of Contact“ – wird KI-gestützt entschieden, ob sich ein Rettungsteam auf den Weg macht oder der Patient an andere Stellen weitergeleitet wird. Ebenfalls denkbar ist, der steigenden Zahl an Einsätzen mit mehr Personal zu begegnen. In dessen Ausbildung muss jedoch zukünftig verstärkt auf psychologische, digitale und KI-Kompetenzen gesetzt werden – und auf Technologie, die die Rettungskräfte im Einsatz unterstützt, so zum Beispiel tragbare Diagnostikgeräte, Drohnen oder Virtual Reality. Schließlich ist auch ein verändertes gesellschaftliches Mindset gefragt: Wer mehr über Gesundheit, Versorgungstrukturen und die eigentlichen Aufgaben der Rettungsdienste weiß, wird nicht sofort den Notruf wählen. Sensibilisierung und Aufklärung sind dringend notwendig, bereits in der Schule und über gezielte Öffentlichkeitsarbeit.
Enttäuschte Erwartungen, ernüchternde Realität
„Notfallsanitäter durchlaufen eine höchst anspruchsvolle Ausbildung. Danach haben sie jedoch selten Gelegenheit, ihre Kompetenzen wie erhofft einzusetzen, insbesondere in Bagatelleinsätzen“, erklärt Druyen. So fordern 92 Prozent der Befragten, dass die Ausbildung zukünftig eine realistischere Erwartungshaltung an den Beruf vermitteln soll, dies auch angesichts einer oft verzerrten Darstellung in den Medien. Bei der Vergabe der Ausbildungsplätze sollte, so 68 Prozent, nicht mehr der schulische Notendurchschnitt der Maßstab sein. Motivation, soziale Kompetenz und psychische Eignung sind wichtiger, um im Beruf langfristig durchzuhalten. Dazu tragen auch mehr Weiterbildungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten, flexiblere Schichtarbeitsoptionen, ein kooperativer Führungsstil und eine offene Kommunikation bei. Dass gesundheitliche Schäden im Beruf stark zugenommen haben – dies bestätigen 71 Prozent –, unterstreicht, dass auch hier gehandelt werden muss: Rettungskräfte setzen sich mit ganzer Kraft für Patienten ein. Das dürfe aber nicht auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit gehen, fordern die Teilnehmer der Studie zu Recht. Präventive Gesundheitsmaßnahmen und Hilfsangebote sind unverzichtbar, vor allem im Fall psychischer Belastungen.
Bereit für mehr Verantwortung
Rettungskräfte erwarten Wertschätzung für ihre Arbeit. 70 Prozent kritisieren jedoch, dass die dauerhafte Überforderung nicht im Einklang zur Bezahlung steht. Dennoch sind sie bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen: 80 Prozent fordern, den hochqualifizierten Notfallsanitätern im Einsatz mehr Kompetenzen und Behandlungsmöglichkeiten zu geben. Entscheidend ist, sich auf Rechts- und Handlungssicherheit stützen zu können – eine Forderung, die 96 Prozent aller Befragten stellen. Als ebenfalls hilfreich erachten 75 Prozent die Unterstützung durch den Telenotarzt, der bereits in verschiedenen Bundesländern im Einsatz ist, sowie Gemeindenotfallsanitäter – bislang nur ein Pilotprojekt in verschiedenen Landkreisen.
Mit dem richtigen Mindset in die Zukunft
„Rettungskräfte begegnen in ihrem Berufsalltag zahlreichen Herausforderungen, die sich zukunftspsychologisch als Paradoxien begreifen lassen“, fasst Druyen zusammen. „Sie nehmen bei der Rettung von Menschen eine ungeheure Verantwortung auf sich, während ihre Handlungsmöglichkeiten rechtlich begrenzt sind. Von ihnen wird schnelle Hilfe verlangt, doch stehen sie oft vor bürokratischen Hürden. Bei der Rettung müssen sie riskante Situationen bewältigen, sollen aber nicht ihre eigene Sicherheit gefährden. Mit diesen und weiteren Paradoxien haben Rettungskräfte jeden Tag zu kämpfen.“ Gefragt ist ein Mindset, das solche Herausforderungen annimmt und der Zukunft mit Veränderungswillen begegnet. Dass die befragten Rettungskräfte ein solches Mindset besitzen, zeigen ihre zahlreichen Lösungsvorschläge. Nun ist die Umsetzung gefragt: Zwar sehen 65 Prozent die Bundesregierung in der Pflicht, doch ist man sich der eigenen Verantwortung bewusst. Rund 48 Prozent der Rettungskräfte sind davon überzeugt, selbst ein starker Motor für Veränderungen zu sein. Denn das Ziel ist es, die Rettung zu retten – ein Ziel, das zum Wohl der gesamten Gesellschaft erreicht werden muss. Doch auch die Gesellschaft selbst ist gefordert, so Druyen: „Wenn wir der Rettung helfen wollen, muss sich die Bevölkerung an dieser Unterstützung beteiligen. Die Rettung wird besser, je mehr die Bürgerinnen und Bürger mitmachen.“