Genaue Zahlen werden zurückgehalten, aber Experten gehen davon aus, dass mindestens 35.000 Menschen in der Ukraine aufgrund des Krieges eine Bein- oder Armprothese benötigen. Die Versorgung mit künstlichen Körperteilen stellt eine Herkulesaufgabe dar, die auch mit internationaler Hilfe derzeit nicht zufriedenstellend gelingen kann. Das ukrainische Public Interest Journalism Lab hat für ORF Topos recherchiert.
Serhiy Telegera, der früher als Kellner in einem Restaurant in Kiew arbeitete, trat zu Beginn des Krieges in die Armee ein, verlor in der Schlacht beide Füße und lernt nun, mit Prothesen zu gehen. Er träumt von Sportprothesen und davon, einen Marathon zu laufen.
Das Haupthindernis für die ukrainische Gegenoffensive ist die Verminung des umkämpften Territoriums durch die russischen Truppen. An einigen Stellen der Front beträgt die Anzahl der Minen vier pro Quadratmeter. Panzerabwehrminen, die Fahrzeuge zerstören sollen, werden zusammen mit Anti-Personen-Minen verlegt. Letztere sollen die Soldaten nicht töten, sondern verstümmeln, um möglichst viele Sanitäter und andere Militärangehörige in das Minenfeld zu locken, die den Verwundeten zur Hilfe eilen.
Zuerst die Opfer, dann die Retter
Eines der erschreckendsten Beispiele für die Wirksamkeit von Anti-Personen-Minen lieferte ein Video, das im Juni von einer Drohne während der ersten Tage der ukrainischen Offensive aufgenommen wurde. Es zeigt die Ergebnisse der Landung von Soldaten der 47. Brigade der ukrainischen Armee aus einem gepanzerten Mannschaftstransporter.
Fünf Männer liegen mit abgesprengten Beinen auf dem Boden, tot oder schwer verwundet. Während der versuchten Evakuierung wurden drei weitere ukrainische Kämpfer durch Minen in die Luft gesprengt. Alle Überlebenden dieses Gefechts werden Prothesen benötigen.
Soldaten in ungepanzerten Privatfahrzeugen als Opfer
Die Verletzung des 29-jährigen ehemaligen Kellners Telegera ist typisch für Soldaten der ukrainischen Armee. Dem Militär fehlt es an gepanzerten Fahrzeugen, sodass viele Kampfeinsätze mit zivilen Fahrzeugen durchgeführt werden. Im Februar 2022 meldete sich Telegera freiwillig für die ukrainische Armee und kämpfte in der Artillerie, wurde dann zum Drohnenführer ausgebildet und zur Luftaufklärung versetzt. Kollegen aus dem Restaurant kauften Telegera einen Pick-up. Am 20. Juni 2023 geriet das Auto von Telegera unter Beschuss. Der Soldat kam von der Straße ab und fuhr direkt in eine Panzerabwehrmine.
Die Explosion zertrümmerte seine Füße. Danach wurde Telegera viermal operiert. Die Füße konnten nicht gerettet werden, wohl aber die Beine bis unter die Knie, was die Anpassung von Prothesen sehr erleichtert. Je höher an den Beinen eine Amputation, desto schwieriger ist es, eine Prothese anzufertigen und desto schwieriger ist es, sich mit ihr fortzubewegen.
Amputationen als Folge der Ersten Hilfe
Jurij Jarmoljuk, Cheftraumatologe der ukrainischen Armee, zitiert Statistiken, laut denen 65 bis 70 Prozent der Verletzungen im russisch-ukrainischen Krieg die Extremitäten betreffen. Der Rumpf und der Kopf sind von Helmen und Panzerungen geschützt, während die Druckwelle von Explosionen auf die weitgehend ungeschützten Beine trifft.
Die meisten ukrainischen Soldaten, die an Armen und Beinen verwundet werden, überleben dank des Einsatzes hämostatischer Stauschläuche. Dabei handelt es sich um ein Abbindesystem, durch das der Blutfluss in den Venen und Arterien gestaut oder vollständig unterbrochen werden kann.
Diese Aderpressen retten zwar das Leben der Soldaten, erhöhen aber auch die Zahl der Amputationen. Bei schweren Kämpfen unter feindlichem Beschuss ist es manchmal unmöglich, die Verwundeten zu transportieren oder sie durchgehend stundenlang medizinisch zu versorgen. Das Gewebe eines Arms oder Beins, das mit einer Aderpresse abgebunden und somit von der Blutzirkulation abgeschnitten ist, wird während dieser Zeit nekrotisch. Nach sechs Stunden ist dieser Prozess nahezu irreversibel.
Drohnen, aus der Egoperspektive gesteuert
In den letzten Kriegsmonaten hat sich die Situation durch den weit verbreiteten Einsatz von FPV-Drohnen weiter verschlechtert. FPV steht für „First Person View“, und in diesem Fall für die Steuerung einer Drohne aus der Perspektive eines virtuellen Piloten an Bord. Der echte Pilot trägt eine Videobrille.
Aufgrund des Einsatzes dieser Drohne konnten sich Evakuierungsfahrzeuge bei Tageslicht nicht mehr an der Front bewegen. Mittlerweile wird immer öfter berichtet, dass russische FPV-Drohnen mit Wärmebildkameras auch nachts Fahrzeuge zerstören können.
Erschreckende Zahlen
Die Kriegsverluste der ukrainischen Armee sind geheim, einschließlich der Zahl der Verwundeten. Die genaue Anzahl Amputierter ist also unbekannt und wird von Experten auf der Grundlage indirekter Daten errechnet. Anfang August 2023, das heißt während der Sommeroffensive der ukrainischen Armee in der Region Saporischschja, schätzte das „Wall Street Journal“ die Zahl der ukrainischen Militärangehörigen, die Prothesen benötigen, auf 20.000 bis 50.000.
Zu diesem Zeitpunkt ging auch Denis Surkow, ein Spezialist für medizinische Versorgung auf dem Schlachtfeld, von rund 50.000 Betroffenen aus. Ende September erklärte Andrij Stawnizer, Gründer des modernsten ukrainischen Rehabilitationszentrums Superhumans Center, dass mehr als 35.000 Ukrainer auf Prothesen warten.
Problem wird nach dem Krieg andauern
66 militärische Auseinandersetzungen auf dem Boden, zwei Raketen- und 61 Luftangriffe, dazu 45 Angriffe von Mehrfachraketenwerfern: So lautet die Bilanz des ukrainischen Generalstabs in Bezug auf feindliche Aktivitäten alleine an einem einzigen Dezember-Tag. Mit jedem Kriegstag steigt die Zahl der Amputierten, und die Nachfrage auf dem weltgrößten Markt für Prothesen – dem der Ukraine – wird auch nach Ende der Kämpfe anhalten.
Denn die Einwohner des am stärksten verminten Landes der Erde werden trotz der dauerhaften und intensiven Bemühungen zur Entminung noch viele Jahre lang durch Minen Gliedmaßen bei der Arbeit auf den Feldern und beim Wandern im Wald einbüßen.
Internationaler Markt von Nachfrage überfordert
Derzeit zeigt sich: Kein Land ist medizinisch auf Zehntausende von Amputierten vorbereitet. In Friedenszeiten ist der Bedarf überschaubar. In Deutschland und der Schweiz, die in der Entwicklung von Prothesen weltweit führend sind, arbeitet die Industrie größtenteils für die Bedürfnisse älterer Menschen.
Moderne Technologie ermöglicht zwar mittlerweile die Herstellung von Prothesen, mit denen man Klavier spielen und den Mount Everest besteigen kann, aber die Produktion erfolgt nicht in militärischem Maßstab, und die Industrie ist nicht in der Lage, Tausende von Prothesen für Ukrainer herzustellen, die arbeiten oder in die Armee zurückkehren wollen.
Auch wer versorgt ist, ist nicht gut genug versorgt
Der ukrainische Staat stellt verwundeten Soldaten bis zu 25.000 Euro für eine Prothese zur Verfügung, und wenn zwei oder drei Prothesen benötigt werden, übernimmt er den Großteil der Kosten. Ein Amputierter kann sich für eine komplexe Funktionsprothese entscheiden: mechanische Hände mit verschiedenen Griffmöglichkeiten, Prothesen für lange Spaziergänge und zum Laufen, innovative bionische Modelle, die durch elektrische Muskelsignale gesteuert werden.
Tatsächlich reicht ein einziges Prothesenmodell nicht aus, um alle unterschiedlichen Bedürfnisse eines Menschen zu befriedigen. Die Klinik der Protez-Stiftung kann zum Beispiel drei austauschbare Prothesen für einen Patienten anfertigen – zum Gehen, Schwimmen und Laufen. Aber nicht jeder kann alle Modelle bekommen, die er braucht, um ein erfülltes Leben zu führen.
Amputationen an der Front oft mangelhaft
Die Prothesen werden aus in der EU und in den USA hergestellten Teilen individuell für jeden Verletzten angefertigt, wobei Körperparameter, persönliche Bedürfnisse und sogar zukünftige Aktivitäten berücksichtigt werden. Vieles spielt dabei eine Rolle, etwa der Stoffwechsel und die Komorbidität – das heißt, dass zusammen mit einer Grunderkrankung gleichzeitig eine oder mehrere weitere Krankheiten vorliegen.
Ein Stumpf kann länger, kürzer, dünner, dicker, strukturierter sein. Die Aufgabe der Spezialisten besteht darin, einen Stumpf anzufertigen, auf den sich eine Prothese gut anpassen lässt. Fast immer muss zuvor eine Reamputation durchgeführt werden – eine rekonstruktive Operation zur Beseitigung von Stumpfmissbildungen. In einer Kampfsituation sind die ukrainischen Militärchirurgen nicht immer in der Lage, den Stumpf für weitere Prothesen bei komplexen, hohen Amputationen richtig zu formen.
Viel zu wenig Nachschub aus Ukraine selbst
Alle Amputationsfälle sind einzigartig und auf ihre eigene Weise kompliziert. Als die Zahl der Verwundeten viele Tausende erreichte, entstand ein Mangel an Orthopädietechnikern, Rehabilitationszentren und Prothesenkomponenten. Nach Angaben des Fonds für den sozialen Schutz von Menschen mit Behinderungen gibt es in der Ukraine 60 Unternehmen, die auf Kosten des Staatshaushalts Prothesen liefern. Aber nur fünf bis sieben von ihnen nehmen sich komplexer Fälle an und sind bereit, die modernsten Modelle von Prothesen zu installieren.
Andrij Stawnizer vom Superhumans Centre schätzt, dass in der gesamten Ukraine etwa 300 Prothesen pro Monat angepasst werden. Da Prothesen alle zwei bis drei Jahre ausgetauscht werden müssen – aufgrund von Modellverschleiß, Veränderungen am Zustand des Stumpfes und des Gewichts –, reicht die derzeitige Kapazität nicht aus, um den Bedarf zu decken.
Diejenigen, die auf der Warteliste für Prothesen stehen, sind oft de facto aus ihren Wohnungen aus- oder in ihnen eingesperrt beziehungsweise zumindest enorm in ihrer Mobilität eingeschränkt, weil weder Mehrfamilienhäuser noch ukrainische Städte barrierefrei sind.
Regelmäßige Anpassung im Ausland kaum möglich
Derzeit benötigen also mindestens 35.000 Menschen in der Ukraine Prothesen. Dazu kommt, dass das jeweilige Modell alle zwei bis drei Jahre ausgetauscht werden sollte. Sprich: Ärzte müssten jeden Monat mehr als tausend Modelle für Amputierte installieren oder austauschen. Ein großer Teil der Prothesen kommt aus dem Ausland, was ein zusätzliches Problem mit sich bringt: Jede Prothese sollte in jener Klinik alle paar Monate angepasst werden, in der sie entwickelt und montiert wurde. In der derzeitigen Kriegssituation ist es aber schwierig – oft unmöglich, dass Betroffene, zumal so oft, verreisen.
Der einzige Ausweg aus dieser Situation ist der Aufbau einer lokalen Prothesenproduktion in der Ukraine, die Übernahme von Technologien, die Ausbildung von Ingenieuren und Ärzten und der Aufbau eines umfassenden Netzes von Rehabilitationszentren.
Bild Aufmacher: Hier wird eine Gipsform für die Herstellung von Prothesen in einer prothetischen Klinik in Kiew angefertigt – Reuters/Alina Yarysh