Interview mit Handbiker Vico Merklein

Vico Merklein – London 2012 (Foto: Sunrise Medical)
Vico Merklein – London 2012 (Foto: Sunrise Medical)

„Ich lebe meinen Traum!“

Kein Team geht emotional so mit. Sie jubeln und leiden mit ihren Team Sopur Sportlern, die Mitarbeiter von Sopur (Sunrise Medical). Nach dem Gewinn der Paralympics-Silbermedaille im Handbike-Straßenrennen in London sind Elke Janson und Dimitra Carapali aus dem Sunrise Medical Marketing unter die Redakteure gegangen und haben Vico Merklein Fragen zu Leidenschaft für den Sport, Dankbarkeit für die Erfolge und seine sportlichen Perspektiven gestellt.

Dimitra Carapali: Vico, du hast im September diesen Jahres an den Paralympics in London teilgenommen. Wie war dieses Erlebnis für dich?

Vico Merklein: Acht Jahre lang habe ich für die Paralympics trainiert. In dieser Zeit ging es rauf und runter. Und plötzlich war der Moment da, auf einmal zählen diese beiden Rennen. Die Vorbereitung, die Qualifikation, alle bisherigen Siege nützen einem in dieser Situation nichts. Da heißt es, die ganze Kraft auf diesen einen Moment bündeln. Dass es tatsächlich für Silber gereicht hat, geht mir echt nah. Beim Gedanken daran, könnt’ ich schon wieder flennen.

Elke Janson: Wie bist du zum Handbiken gekommen?

VM: Nach meinem Unfall einen Tag vor meinem zwanzigsten Geburtstag fiel ich in ein ganz tiefes Loch, ich machte einfach gar nichts. Irgendwann sah ich jemanden mit einem Vorschnallbike an mir vorbeifahren und dachte: ,Das ist es!‘ Ich fing auch an Rad zu fahren, immer mit dem Gedanken: ,Trainiere, fahre, mach dich fertig, damit du abends wieder schlafen kannst.‘ Vielleicht war es mein Glück, dass ich mit dem Vorschnallbike ganz schnell unterwegs war und zum Teil die Rennbikes überholt habe. Das gab mir Auftrieb, und ich genoss das gute Gefühl. Davon wollte ich mehr. Von meiner Oma bekam ich dann mein erstes Rennbike. Mit dem bin ich Rennen gefahren, vereinzelt auch HCT-Rennen (Anmerkung der Redaktion: Handbike City Trophy, inzwischen umbenannt zur Handbike Trophy). Für meine erste Marathondistanz benötigte ich 1:45 Stunden. Diese Zeit wollte ich auf 1:30 Stunden verbessern.

 

DC: Heute bist du „berufener“ Sportler. Wie kam es dazu?

VM: Ich war schon immer ein Lebenskünstler und bin irgendwie über die Runden gekommen. Vor meinem Unfall war ich Gas- und Wasserinstallateur. Danach habe ich Invalidenrente bekommen – zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Aber mir hat es gereicht.

Der Radsport wurde immer wichtiger für mich, und irgendwann konnte ich die ersten Sponsoren gewinnen, die mir beispielsweise den Sprit für die Fahrten zu den Rennen bezahlt haben. Unterstützung bekam ich auch von meinem Fahrradhändler, denn er baute mir die Ersatzteile, die ich brauchte, umsonst ein. Am Anfang musste ich viele Klinken putzen, immer wieder dran bleiben und fragen. Später bin ich als Amateur für Team Rehability gefahren, mein erstes Team.

Als Amateursportler war ich 2004 auf der Abschlussveranstaltung der HCT in Frankfurt und habe dort bei der Tombola ein dreitägiges Training mit Errol Marklein gewonnen. Er ist Manager vom Team Sopur und einer der Initiatoren der HCT. Das war Zufall, totales Glück und fühlte sich an wie ein Sechser im Lotto – kurzum: ein absoluter Wendepunkt in meinem Leben. Errol hat mir erst mal tausend Fragen gestellt. „Was sind deine Ziele?“, „Wovon träumst du?“ und so weiter. Da stand ich ganz schön verdattert da. Eigentlich habe ich mich einfach nur gefreut, mit Errol ein Training gewonnen zu haben. „Ich will einfach schneller fahren“, sagte ich ihm, „und eine Teilnahme bei den Paralympics wäre auch cool.“ Er half mir, meine Ziele zu formulieren und sie strategisch und beharrlich anzugehen. Auf einmal waren ganz andere Fragen wichtig, wie meine Bereitschaft, mich selbst und mein ganzes Leben auf den Sport auszurichten: „Wie viel Zeit hast du zum Trainieren? Wo willst du trainieren, wann? Bist du bereit für den Schmerz?“

 

DC: Wie ging es dann weiter?

VM: Das Ziel Paralympics war nun ausgesprochen. Errol hat dann den Weg dorthin auf einem Flipchart aufgezeichnet. Ich stand ganz unten und das Ziel war ganz oben. Er sagte: „Es gibt immer wieder Rückschläge, der Weg ist weit und kurvig. Wenn man den Weg aufmalt, entsteht ein Tannenbaum. Du brauchst Geld, Freunde, Rat, Material, Schmerzresistenz und Zeit. Im Sport hangelst du dich von Ast zu Ast nach oben. Und du schwingst immer wieder zurück und arbeitest dich langsam weiter nach oben. Manchmal bricht ein Ast, z. B. wenn du dich verletzt, aber wenn du dran bleibst, geht es immer weiter. Willst du das?“ – Und ob ich wollte!

Errol und ich haben uns auch später, nach dem dreitägigen Training, das ich gewonnen hatte, oft getroffen und gemeinsam trainiert, auch mit meinen Team-Kollegen von Rehability. Ich habe immer gern mit anderen Leuten trainiert. Das macht mehr Spaß und man kann schon im Training abgleichen, wo man steht. Diesen Rat hat mir auch Errol gegeben: „Trainiere immer mit den Besten! Warum willst du erst im Wettkampf merken, wo du stehst?“ Bei den Trainings war nach zwei Stunden Schluss bei meinen Trainingspartnern.  Ich wollte immer noch länger und mehr trainieren, meine Grenzen spüren. Außerdem lohnte es sich doch nicht, für zwei Stunden Training insgesamt zwei Stunden Fahrt auf mich zu nehmen. Da wurde es schon sichtbar, dass ich einfach ehrgeiziger war, andere Ziele hatte. .

 

EJ: Und wie und wann kam das Team Sopur ins Spiel?

VM: Errol hat mir 2006 ein konkretes Angebot gemacht, für das Team Sopur zu fahren. Als loyaler Kerl habe ich Rehability gegenüber stets mit offenen Karten gespielt und gleich das Angebot vom Team Sopur vorgelegt. Ich hatte gehofft, von Rehability gleiche Konditionen zu erhalten. Es kam anders, weil das Team sich als Breitensportteam verstand und ich einfach weiterkommen wollte. So kam ich Anfang 2007 ins Team Sopur.

Meine erste WM war 2006 in Aigle. Da haben sie mich nicht starten lassen. Nach dem Warmfahren wurde ich mit dem Vorwurf disqualifiziert, ich hätte an meinem Bike geschraubt. Es war nichts zu machen, was der Platzwart sagt, ist Gesetz! Ich hab mich gefühlt wie ein Pferd auf der Rennbahn, dessen Box nicht aufgeht, während alle anderen schon los rennen. In meiner Wut und Trauer habe ich Errol angerufen. Der sagte nur: „Ärgern ändert nichts. Bleib ruhig, sonst wird es nur noch schlimmer und sie sperren dich komplett.“ Diese Erfahrung war schlimm.

Ab 2007 bin ich für das Team Sopur gefahren. Mein erklärtes Ziel war Beijing 2008, dafür habe ich trainiert. Leider hat es damals nicht ganz gereicht, ich wurde nicht nominiert. Wir fuhren noch mit den Kniebikern in einer Klasse, die der Verband aufgrund des Streckencharakters für aussichtsreichere Wettkämpfer hielt. Ich war super enttäuscht, ich war so erfolgreich, war sogar Deutscher Vize-Weltmeister. Am Ende war ich trotzdem bei den Paralympics in Beijing dabei, als Co-Trainer für meinen Team Sopur-Kollegen Edward Maalouf, der in Holland lebt. Er startete bei den Paralympics für seine Heimat Libyen. Das war eine sehr wichtige Erfahrung. Ich war hautnah dabei, unterstützte meinen Teamkollegen, wo ich konnte und arbeitete an seinen Stärken. Als Edward dann zwei Mal Bronze gewann, weinte ich vor Glück. Ich war so stolz auf ihn, denn keiner hatte ihn auf dem Plan. Er hat das Unmögliche möglich gemacht, und ich war dabei. Der Wunsch, selbst eine Medaille bei Paralympischen Spielen zu gewinnen, wurde riesig.

 

DC:  Das war wohl eine ziemlich bewegte Zeit! Ging es dann steil mit der Vorbereitung für die Paralympics 2012 für dich weiter?

VM: Nach Bejing habe ich mich auf das nächste große Ziel konzentriert: London 2012. Errol meinte: „Mach aber erst mal ein – wie er das nannte – ‚Wildwestjahr’. Mach etwas, was dir richtig Spaß bereitet.“ Und dann kam die verrückte Idee mit dem Race Across America 2009, ein Abenteuerrennen für Extremsportler. Das Team Can Be Venture hatte damals noch kurzfristig einen Fahrer gesucht. Ich war in der Szene schon als ein bisschen verrückt bekannt. (lacht) Wir waren ein Team von vier Handbikern – zwei Deutsche und zwei Amerikaner. Es ging von West nach Ost, von San Diego in Richtung Washington. Und das in nur acht Tagen, neun Stunden, acht Minuten. Immer einer ist gefahren. Das war das Anspruchsvollste, was ich jemals gemacht habe. Ich habe meine Grenzen ausgelotet und mental wie auch physisch alles aus mir rausgeholt. Jeder dachte, ich hätte mich total verausgabt. Gerade mal zehn Tage nach meiner Rückkehr bin ich jedoch beim Heidelberg Marathon den Weltrekord gefahren, mit 1 Stunde und 3 Sekunden.

2010 folgte die Weltmeisterschaft in Kanada. Da wurde ich Dritter im Zeitfahren und Vierter im Straßenrennen. Seit 2010 fahre ich auch im A-Kader, womit ich ins Top-Team für London kam. Mit dieser Unterstützung ließ es sich noch besser trainieren. Ich habe alles für den Sport gegeben. So bin ich eben. Meine Freundin kann ein Lied davon singen. Aber es gehörte noch etwas anderes dazu, sportlich so erfolgreich zu sein: Ich musste lernen, mich mit den strengen Vorgaben der Nationalen Dopingbehörde zu arrangieren. Denn wenn es dumm läuft, können zwei Mal, in denen man für die Dopingbehörde nicht erreichbar ist, eine Sperrung auf lange Zeit bewirken.

 

DC: Wie können wir uns das vorstellen?

VM: Egal was ich mache und wohin ich gehe, ich muss mich bei der Nationalen Dopingbehörde abmelden, und zwar an 365 Tagen im Jahr. Selbst wenn ich ins Kino gehe, heißt es abmelden und immer angeben, wo ich bin. Das ist der schlimmste Stress im Leistungssport. Eine Kollegin von mir hat einmal angegeben, sie wäre von 9-14 Uhr auf der Strecke. Sie war um 8.55 Uhr in ihrer Garage und ist in ihr Bike eingestiegen. Punkt 9 Uhr fuhr sie hinten raus los. Und Punkt 9 Uhr stand vor dem Haus die Nationale Dopingbehörde. Sie konnte zum Glück per SRM nachweisen, dass sie tatsächlich zum angegebenen Zeitpunkt aus der Garage gefahren war. Sonst hätte das zwei Jahre Sperre bedeutet. Naja, inzwischen habe ich mich sogar daran gewöhnt.

2011 war dann entscheidend für die Paralympics-Qualifikation innerhalb des A-Kaders.  Für eine WM-Teilnahme müssen drei Rennen im Jahr zur Qualifikation absolviert werden. Drei Chancen, mehr ist es nicht. Das ist echt mentaler Stress, denn wenn das nicht klappt, kommst du nicht zur WM und hast keine Möglichkeit zu den Paralympics zu fahren.  Bei der Weltmeisterschaft in Roskilde (Dänemark) wurde ich Vize-Weltmeister im Zeitfahren und Vierter im Straßenrennen. Damit kam ich zumindest in die engere Wahl. 2012 habe ich dann bei jedem Rennen meine Leistung bestätigt. Damit konnte ich auch meine Teilnahme in London sicherstellen. Ich war 2012 bis Mitte September  168 Tage nicht zu Hause. Das ist auch eine Belastungsprobe für Freunde, Familie und für die Freundin. Das hat mich einige Beziehungen gekostet, aber das Handbiken hat für mich Priorität, das kommt vor allem. Das wissen inzwischen alle.

 

EJ: Und dann war es so weit, die Paralympics in London standen an. Wie war das, was ging in dir vor?

VM: „Vico go for Gold“ – diese Worte las ich auf einer riesigen Fanflagge, als ich kurz aus der Box rausschaute. Da habe ich geschluckt, das hat mich umgehauen! Du denkst, du bist tough, du bist cool und dann ist das alles so emotional. Da half nur noch, mir selbst gut zuzureden. In dieser überwältigenden Stimmung versuchte ich die Startnummer am Bike zu befestigen und merkte plötzlich, dass die Gabel zu Dreiviertel gebrochen war. Genau 90 Minuten vor dem Start zum Zeitrennen!

 

EJ: Wie konnte so etwas denn überhaupt passieren?

VM: Ich hatte gepokert, wollte so wenig Gewicht und Schweißnähte wie möglich an meinem Bike. Errol hatte mich gewarnt und wollte verhindern, dass ich ein zu großes Risiko eingehe. Das hatte ich nun davon. Mitten in meinen absoluten Frust kam der Service-Mann vom Deutschen Behindertensportverband (DBS) und sagte völlig schockiert: „Oh Gott!“. Da hab ich gedacht „Ja genau, das brauch ich jetzt noch!“ Ich hab mich dann mit meinem Ersatzbike warm gefahren und der Service-Mann hatte 90 Minuten Zeit, den Riss zu beheben. Am Ende haben sie der Gabel einen „Plastikgips“ angelegt und diesen mit Karbonfasern umwickelt. Obwohl ich es für wahrscheinlich hielt, dass die Gabel halten würde, war mein Kopf nicht frei. Und so kam eben dieser vierte Platz heraus – Holzmedaille. Das war totaler Frust!

 

DC: Und dann der große Moment, das Straßenrennen – wie hast du das erlebt?

VM: Das Rennen lief super. Ich habe einfach gemerkt, dass ich meine Leistung abrufen kann. Alles hat gepasst: Ich fuhr vorneweg. Es war alles cool, bis ich in der sechsten Runde merkte, dass der Rafal (Anmerkung der Redaktion: Rafal Wilk, Polen, Goldmedaille) mich überholte. Meine Konzentration war kurz weg, und genau den Moment hat er genutzt. Als ich es realisiert habe, konnte ich nichts mehr machen. Ich wusste, was passiert. Rafal ist den Berg hoch gebrettert, ich ihm hinterher. Aber er ist mir stetig in kleinen Schritten weggefahren. Oben auf der Kuppe hatte er 50 Meter Vorsprung. Ich habe bis auf 10 Meter aufgeholt, dann waren meine Arme so dick, ich konnte nichts mehr machen. Ich wusste, den kriege ich nicht mehr. Also habe ich auf Schadensbegrenzung umgestellt. Ich war echt gewillt zu sterben, ich habe alles gegeben. Ich hatte am Ende 90 Sekunden Vorsprung auf den Joel (Anmerkung der Redaktion: Joel Jeannot, Frankreich, Bronzemedaille). Die Leute auf der Zielgerade sind ausgerastet, das Team, die Betreuer, das war unglaublich.

Am Ende der Strecke habe ich nicht geglaubt, dass ich im Ziel bin. Ich habe mich gefragt: „Kommt noch mal eine Runde?“. Ich habe ganz unsicher geschaut: „War es das jetzt?“ Es wäre nicht das erste Mal, dass einer vor lauter Adrenalin denkt, er wäre am Ziel, reißt die Hände hoch und plötzlich fahren die anderen Teilnehmer an ihm vorbei. Und dann bin ich tatsächlich über die Ziellinie gerast. Die ganze emotionale Last, die ich doch irgendwie aufgebaut hatte, fiel ab. Ich habe nur noch geschrien. Ich war heiser, bis ich in der Boxengasse war. Hey, ich habe so darum gekämpft, ich war so zufrieden, so glücklich.

EJ: Was kommt jetzt, was ist das nächste Ziel für Vico Merklein?

VM: Rio 2016, klar! Vielleicht aber nächstes Jahr erst mal wieder ein ‚Wildwestjahr’. Irgendwas, was noch keiner gemacht hat und von dem jeder glaubt, das funktioniert nicht. Wenn mir die Ideen ausgehen, vielleicht fällt Errol etwas Verrücktes für mich ein (lacht).

Generell steht für mich fest: Wenn ich selbst nicht mehr fahren kann, dann werde ich versuchen, jungen Talenten mitzugeben, was ich selbst erfahren durfte: Unterstützung dabei, die eigenen Grenzen auszuloten, konsequent sich (auch gern hohe) Ziele zu setzen und diese erreichbar zu machen. Auf diese Aufgabe freue ich mich richtig. Ich weiß nicht, wo ich bei all dem ohne einen Wegbegleiter wie Errol Marklein heute wäre.

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