Berufe im Rollstuhl: Hinter Klostermauern

Foto: privat
Foto: privat

Bei der ersten Leserbefragung für unser Magazin stand unter Wohnung angegeben: im Kloster. Zu Beginn des Jahres veröffentlichten wir unter Kleinanzeigenteil die Suche nach einem Rollstuhl-Ersatzteil. Aus diesen Kontakten entstand ein Schriftverkehr mit der Redaktion. Zwar war die eigentliche Suche nach dem Teil für einen Uralt-Rolli nicht von Erfolg gekrönt, aber Schwester Crescentia vom Orden der Clarissen war überrascht und erfreut, wie viele interessante Kontakte sie dennoch über diese Anzeige knüpfen konnte. Sie schrieb damals: „In den ersten Wochen war ich etwas enttäuscht, ja traurig, aber dann bekam ich über die Anzeige Kontakt zu anderen Rollstuhlfahrern und wurde so rein menschlich mehr bereichert als mit einem Ersatzteil.“  Während des Briefkontaktes stellte sich die Frage: „Wie lebt es sich in einem Kloster, wenn man auf den Rollstuhl angewiesen ist?“ Neugierig geworden, baten wir um einen Besuchstermin, der von der Äbtissin genehmigt wurde.

An einem sonnigen Septembertag – davon gab es in diesem Jahr nicht viele – besuchte ich Schwester Crescentia im Kloster St. Klara in Senden im Münsterland. Ich war sehr gespannt, denn aus dem voran gegangenen Schriftverkehr mit der Redaktion und einem Telefongespräch erwartete ich eine temperamentvolle, wache und humorvolle Frau, die trotz und mit Rollstuhl ihr Leben in der Abgeschiedenheit meistert. Zwar waren mir im Laufe meines Lebens immer wieder Ordensleute begegnet – als Krankenschwestern, in Kinderheimen und als Religionslehrer – aber unter dem Klosterleben an sich konnte ich mir nicht so recht etwas vorstellen, zumal ich Gast in einem kontemplativen Kloster sein würde.

Kontemplation bedeutet allgemein Beschaulichkeit oder auch beschauliche Betrachtung, Einkehr, aber auch Versenkung. In der Regel wird durch ein kontemplatives Leben oder Handeln ein besonderer Empfindungszustand oder eine Bewusstseinserweiterung angestrebt. Eine kontemplative Haltung ist von Ruhe und sanfter Aufmerksamkeit auf einen Gedanken bestimmt. Schwester Crescentia brachte es im Laufe unseres Gesprächs auf die griffige Kurzformel: „Kontemplativ leben heißt, mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und die Realität so lange betrachten, bis sie durchsichtig ist“.

Benannt ist das Kloster nach Klara von Assisi. Sie kam 1193 oder 1194 in einer adligen, reichen Familie zur Welt und wurde durch ihre tiefreligiöse Mutter geprägt. 1212 verließ sie heimlich ihr Elternhaus und schloss sich Franz von Assisi an. Im kleinen Kloster San Damiano lebte sie über 40 Jahre mit Gefährtinnen. Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen war der tragende Grund ihres Lebens. Sie starb 1253 und wurde zwei Jahre später von Papst Alexander IV. heilig gesprochen.

Der Lebensweg von Schwester Crescentia ist sehr wechselhaft verlaufen, aber in all dem Chaos fand sie schon früh zu ihrer Berufung. 1939 in Neuwied geboren, lebte sie mit der Mutter bei den Großeltern, denn der Vater war – wie die meisten Männer – im Krieg. Als der Vater krank zurückkam, gründete er mit der Mutter einen Krämerladen in einem benachbarten Dorf. Dort fühlte sich die kleine Tochter, die damals noch Gerlinde hieß, überhaupt nicht wohl. Immer wieder lief sie fort und schlüpfte bei den Großeltern unter. Irgendwann durfte sie dort bleiben und hatte in dieser Zeit ersten Kontakt zu behinderten Kindern.

Sie lebte zwischen einer Blindenschule und einer Schule für Taubstumme und erlernte durch die engen Kontakte schon damals die Gebärdensprache. Mit 12 Jahren verspürte Gerlinde den Wunsch, in ein Kloster einzutreten. Wie Eltern und Großeltern aber nun mal sind, bestanden sie darauf, dass das Mädchen etwas „Ordentliches“ lernte. So wurde sie zur Kinderkrankenschwester ausgebildet.

Nach der Ausbildung stand ihr Vorsatz weiterhin fest, Nonne zu werden. Der Großvater wollte seine Enkelin nicht an einen Orden verlieren und versprach der jungen Frau, nicht nur den Führerschein zu finanzieren, sondern zusätzlich einen nagelneuen NSU-Prinz, der gerade auf der Automobilausstellung vorgestellt worden war. Das Angebot reichte nicht – der Entschluss stand fest und 1959 wurde aus der jungen Gerlinde Schwester M. Crescentia im Orden der Clarissen. Sie arbeitete an wechselnden Orten in ihrem erlernten Beruf und übernahm 1970 die Leitung einer „Intensivstation“ für behinderte Kinder.

Diese Bezeichnung ist vielleicht etwas irreführend, trifft aber doch den Sinn der Arbeit: Mit den eingewiesenen Kindern wurde sehr „intensiv“ gearbeitet um herauszufinden, was wirklich mit ihnen los war. Damals wurden noch viele Kinder als „nicht bildungsfähig“ in Anstalten gesteckt, obwohl sie dort nicht hin gehörten.

Schwester Crescentia erzählte mir von Thomas, der im Alter von fünf Jahren mit der Diagnose „Idiotie“ eingewiesen wurde. Schnell merkte sie, dass der Junge hingegen taubstumm war und förderte ihn so „intensiv“ es nur möglich war, wobei sie auch die Familie einbezog. Thomas wechselte auf eine entsprechende Schule, erlernte den Beruf des KFZ-Mechanikers, ist heute verheiratet und arbeitet als Techniker und Fahrer in einem Heim für behinderte Kinder.

Erschüttert hat sie auch das Schicksal von Paolo, Kind eines deutschen Vaters und einer portugiesischen Mutter. Die Familie lebte in der Nähe von Lissabon und produzierte Babywindeln. Finanziell ging es ihnen nicht schlecht, aber aus Unkenntnis, dass Paolo Autist war und aus Bequemlichkeit wurde das Kind nackt im Garten „gehalten“. Einziger Gefährte war ein Deutscher Schäferhund. Die Ernährung bestand aus Bananenbrei und Kaffee! Dieses Geschöpf wurde im Alter von neun Jahren mit einer Windel und einem Hemd bekleidet in die Obhut von Schwerster Crescentia gegeben. Sie verwandte ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das wilde, verwahrloste Kind und schon nach einem Tag benutzte dieses die Toilette. Über Versuche mit Rührei und püriertem Gemüse wurde die Ernährung auf eine neue Basis gestellt. Nach Monaten konnte Paolo von seinem Vater in die Heimat geholt werden, wo er endlich in seine Familie integriert werden konnte.

1977 stellte Schwester Crescentia fest, dass trotz der Liebe zu „ihren“ Kindern in Zukunft ihr Platz woanders sein würde. Nach achttägiger Meditation und dann noch einmal 30 Tagen Exerzitien in einem Kloster in Würzburg wurde ihr klar, dass sie zukünftig in einem kontemplativen Kloster leben wollte. Ausgerechnet an Fastnachts-Donnerstag 1978 kam die Aufforderung, sich umgehend im neuen Kloster einzufinden. Das ging ihr denn doch zu schnell! Seit Jahren übernahm sie stets zu den Tollen Tagen die Nachtwachen im Kinderheim, weil sie wollte, dass in dieser Zeit die weiblichen Angestellten bei ihren Männern sein konnten. Auch einer Nonne sind offensichtlich manche menschlichen Dinge nicht fremd. Der Umzug erfolgte dann am Fastnachts-Dienstag!

Im Kloster, in dem Schwester Crescentia zuvor gelebt hatte, waren alle Schwestern gleich und es gab keine Unterschiede in der Art zu leben. Jetzt in St. Klara bekam „jeder das Seine“. Was anfangs wie das reine Chaos anmutete, ordnete sich langsam und zeigte so manche schöne Seite. Das Leben in der Gemeinschaft war stark von Musik geprägt – alle Schwestern spielten ein Instrument. Die Arbeit in Haus und Garten verrichtet jede nach ihren Fähigkeiten und Neigungen.

Auch eigene gesundheitliche Probleme prägten dieses Gott geweihte Leben. Im Alter von 25 Jahren erkrankte Schwester Crescentia an Brustkrebs, nach der Amputation und regelmäßigen Kontrollen galt sie Jahre später als geheilt. 1977 erlitt sie einen Herzinfarkt und 2 Jahre später infizierte sie sich und bekam eine Hirnhautentzündung. Seit einigen Jahren schreitet eine Muskeldystrophie langsam voran und zwingt sie zunehmend, einen Rollstuhl zu benutzen. Da die im Kloster anfallenden Arbeiten von Schwester Crescentia nicht mehr verrichtet werden konnten, begann sie mit Stick- und Webarbeiten. Aufträge von „draußen“ trugen so immer ein wenig zum Unterhalt des Hauses bei. Ob es die Restauration von antiken Stuhlbezügen oder die Herstellung einer Fahne für den örtlichen Schützenverein war – die Stücke sind handwerklich und künstlerisch beachtlich.

Nebenbei erlernte die nun nicht mehr so ganz junge Ordensfrau die italienische Sprache – nicht in dem Glauben, sie jemals in der Praxis anwenden zu können, sondern eher, um das Gehirn zu trainieren. Umso größer war die Freude, als ihr im vergangenen Jahr die Gelegenheit geboten wurde, nach Assisi zu reisen. Während die Mitschwestern dort im Kloster der Clarissen wohnten, verbrachte Schwester Crescentia die Zeit in einem Hotel in der Innenstadt und hatte dadurch die Gelegenheit, ihre Zeit mit Besichtigungen sehr viel freier einzuteilen und intensiv zu nutzen und nebenbei ihre Sprachkenntnisse anzuwenden.

Ihren komfortablen Elektrorollstuhl, der sie weitgehend unabhängig von fremder Hilfe macht und mit dem sie häufig in Senden und Umgebung unterwegs ist, musste sie beim Sozialgericht einklagen, da ihre Krankenkasse der Meinung war, so etwas brauche man im Kloster nicht. Sie bezeichnet ihn seitdem oft als „Streitwagen“.

Seit einiger Zeit beeinträchtigt die Muskelerkrankung nun zunehmend auch Arme und Hände. Dadurch wird es immer schwieriger, die feinen Stick- und Webarbeiten in Angriff zu nehmen. Trotzdem lässt Schwester Crescentia den Kopf nicht hängen. Als ich sie einmal telefonisch erreichen wollte, war sie nicht auffindbar – sie war gerade dabei, sämtliche Wasserhähne des Klosters zu entkalken. Mit ihrem E-Rolli saust sie dazu geschickt durch die langen Gänge des Klosters.

Ihr nächstes Projekt? Mit 68 Jahren will sie jetzt englisch lernen!

 Brigitte Zellmer

 

Weitere Artikel

Letzte Beiträge